XIX.

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Tja, diese nicht zu trübende Stimmung wurde erstaunlich schnell vernichtet.
Ein gehässiger Blick aus schwarzen Augen, ein fieses, vor Sarkasmus triefendes: "Ach Hallo Christine, wie schön dich zu sehen. Geht's dir gut?"
Und ich hätte ihn am liebsten erstochen.

Das fing natürlich mal wieder gut an.
Ich verdrehte möglichst gehässig die Augen und säuselte so klebrig freundlich wie nur möglich:
"Aaron! Ja klar, mir geht's wirklich suuuper. Du bist früh dran, wir sind noch am Essen. Komm doch rein."
Ich war mir sicher, dass man den unterdrückten Sarkasmus in meinen Worten auf 10 Meilen gegen den Wind riechen konnte, doch Mom schien absolut nichts zu bemerken.

Sie deckte bereits strahlend einen weiteren Teller und freute sich offensichtlich über den Besuch.
"Hallo Aaron, es gibt Asia Reispfanne, ich hoffe es schmeckt dir."
"Mom er hat bestimmt gar keinen Hunger, ich bin eigentlich auch schon fertig. Wir können doch direkt hoch gehen."

Ich wollte diesen Nachmittag am liebsten so schnell wie möglich hinter mich bringen. Da hatte ich allerdings ohne Aaron gerechnet, denn als ich mich schon zum Gehen umwandte stellte er seinen Rucksack ab, setzte sich auf einen freien Platz und säuselte meine Mutter voll:
"Das riecht ja fantastisch Mrs Morrison, ich würde wirklich gerne mit essen."

Meine Mutter warf mir einen mahnenden Blick zu, und ich war mir beinahe sicher, ihre telepathische Nachricht hören zu können:

"Allison, so habe ich dich nicht erzogen. Denk an deine Manieren."

Als sie sich umwandte um ihm zu schöpfen setzte ich mich auf meinen Platz Aaron gegenüber und warf ihm einen genervten Blick zu, den er bloß mit einem scheinheiligen Lächeln quittierte.

"Ach und Aaron, du kannst mich gerne Lynn nennen, dann fühl ich mich nicht ganz so alt."
Die beiden lachten als sie den Teller vor ihm abstellte.
"Außerdem war ich nie verheiratet, das Mrs fällt also sowieso weg."
Jetzt würde sie ihm also unsere Familiengeschichte aufschlüsseln. Prima.

"Das schmeckt wirklich lecker, Lynn. Ich liebe die asiatische Küche. Meine Großmutter ist Thai, also liegt mir das ja in den Genen." Schleimte er weiter.
"Oh wirklich? Ich bezweifle, dass mein Reis da mithalten kann, zumal das Essen von der eigenen Grandma sowieso immer das Beste ist."

Ich stellte den Kopf auf Durchzug, schob meinen Teller von mir weg, lehnte mich im Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
Bewusst versuchte ich mich von der Tatsache abzulenken, dass meine Mutter gerade Smalltalk mit "dem Feind" hielt, indem ich an Miles dachte.

Daran wie er in der U-Bahn neben mir gesessen und meine Hand gehalten hatte, wie mein Kopf an seiner Schulter lehnte.
Wie es mir nichts ausgemacht hatte, zu schweigen.
Wie er meine Hand nicht losgelassen hatte bis wir in unserer Auffahrt standen und er die Finger seiner zweiten Hand in die meiner anderen flocht.
Und vor allem, wie er mich zum Abschied geküsst hatte. Länger als dass es noch anständig gewesen wäre und trotzdem viel zu kurz.

Jäh wurde ich aus meinen Träumereien gerissen, als ich plötzlich Aaron's Stimme vernahm.
"...oder Christine?"
Mein Blick schnellte zwischen ihm und meiner Mutter hin und her, beide sahen mich fragend an. Ich hatte das Gefühl als wüsste Aaron genau, dass ich keine Ahnung hatte, was er von mir wollte.

"Ähm ja, ja klar..." Antwortete ich, hoffend das wäre die richtige Antwort.
"Okay gut, ich mach das hier alles." Antwortete meine Mutter, stand zeitgleich mit Aaron auf und begann das Geschirr wegzuräumen.
Ich stand ebenfalls auf und folgte Aaron, der seinen Rucksack nahm,
zielsicher die Treppe erklomm, in mein Zimmer marschierte und sich aufs Bett fallen ließ.

Ich verdrehte die Augen und deutete mit dem Zeigefinger auf ihn.
"Aufstehen, da ist dein Platz."
Den einen Arm in die Hüfte gestemmt, den anderen Richtung Schreibtisch schwenkend signalisierte ich ihm deutlich, dass ich nicht in Stimmung für seine dummen Sprüche war.
Hm. Zumindest dachte ich, es wäre deutlich. Jedenfalls brachte er trotzdem dumme Sprüche.

"'Da ist mein Platz?' Bin ich jetzt plötzlich dein Hund?"
"Oh entschuldige Aaron. Wäre es dir genehm, dich auf diesem Stuhl hier drüben niederzulassen und deine Matheaufgaben zu erledigen anstatt mein Bett zu belagern?"
Ich hatte meinen unschuldigsten Blick aufgelegt, den mit den größten Augen, die über den Brillenrand schielten.
"Natürlich die Dame, wenn man schon so äußerst freundlich gefragt wird."
Er stand grinsend auf und verbeugte sich leicht vor mir.

Ich schmeckte bittere Galle, so zuwider war mir sein sarkastisch dreinblickendes Gesicht, die Luft war zum schneiden dick.

Doch er setzte sich tatsächlich ohne ein weiteres Widerwort an den Tisch, zog seine Unterlagen hervor und begann schweigend zu rechnen.
Erleichtert stieß ich die Luft aus und legte mich bäuchlings auf mein Bett um ein bisschen zu lesen.

Nach einer Weile fragte er:
"Chris?"
Ich sah ihn ungläubig an.
"...tine? Christine?" Setzte er langsam nach.
"Ich heiße Allie. Alle nennen mich Allie, schließ dich da bitte einfach an."
"Hmm nein, alle nennen dich Allie also nenn ich dich Chris."
"Das ist ein Männername."
"Zur Auswahl stehen Allison, Morrison, Christine und Chris. Such dir was aus, aber Allie kommt nicht in Frage. Das kann ja jeder."
"Meine Güte, nenn mich doch wie du willst. Aber nicht Morrison. Und bitte auch nicht Allison. Ach von mir aus nenn mich eben Chris, mir doch egal."
Er lächelte ein triumphierendes Lächeln, ich rollte mit den Augen.

"Was wolltest du eigentlich?"
"Kannst du mir hier vielleicht mal kurz helfen?"
"Achso ja klar." Ich stand auf. Mit so etwas simplem hatte ich dann doch nicht gerechnet. Ich hätte gedacht er möchte mir einen dummen Spruch drücken.
Ich erklärte ihm etwas, das unsere Mathelehrerin bestimmt schon fünf mal erklärt hatte und sah an seinem Gesicht, dass er es verstanden zu haben schien.

"Achso, dann ist das ja gar nicht so schwer."
"Wenn du die Formeln lernen würdest hättest du es eher verstanden."
"Gibt wichtigeres im Leben." Gab er schulterzuckend zurück.
"So ein Schulabschluss ist trotzdem ganz praktisch." Argumentierte ich ironisch.
"Ja vielleicht." Er lachte. "Danke jedenfalls."
Ich nickte ihm zu und ging zurück zum Bett. "Das ist mein Job."

Als ich es mir wieder bequem machte wurde mir bewusst, dass das eben das erste annähernd normale Gespräch war, das ich seit Jahren mit diesem Jungen geführt hatte.

The Absence of Heat - Die Abwesenheit von WärmeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt