~Prolog~

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Lucy Gray Baird 

Sechs Jahre war es her, seit sie Coriolanus verlassen hatte.

Sechs Jahre war es her, seit sie die Covey verlassen hatte.

Fünf Jahre war es her, als Isadora Coral geboren war. Ihre Tochter. 

Sie erinnerte sich daran, wie sie diese Hütte vor sechs Jahren eigenhändig gebaut hatte. Es war harte Arbeit gewesen, doch es hatte sich gelohnt. Jetzt hatte sie ein Zuhause, auch wenn es sich nicht immer so anfühlte. Die Covey, besonders Maude Ivory, fehlte ihr sehr. Die Auftritte auf dem Hob, die Menschen aus Distrikt 12, die sie für ihre Musik geliebt hatten, fehlten ihr. Und auch, wenn sie es nicht gerne zugab, fehlte ihr Coriolanus.

Doch falls sie an ihn dachte, erinnerte sie sich an das, was er getan hatte. Was er ihm angetan hatte. Sie hatte damals Angst gehabt, genauso am Henkersbaum zu enden, wie Sejanus Plinth. Durch Coriolanus Snow.

Jetzt saß sie hier. In ihrer warmen Holzhütte, in den tiefen Wäldern von Distrikt 12. Der Regen prasselte ruhig und gleichmäßig auf das mittlerweile wieder dichte Dach. Vor nicht allzu langer Zeit war bei einem Unwetter ein schwerer Ast auf das Dach gefallen, mitten im Oktober. Es hatte das Heizen ziemlich erschwert. Lucy Gray nähte weiter an dem hellblauen Kleid, an dem sie schon seit zwei Wochen saß. Es war nicht leicht, komplett ohne Geld zu überleben, aber sie würde sie dort durchbringen.

Die Kerze auf dem Holztisch flackerte, als ein kühler Luftzug durch das geklappte Fenster zog. Lucy Gray blickte nach draußen, doch sie erkannte nichts, es war bereits zu dunkel. Leise seufzte sie und schloss das Fenster wieder.

,,Ma?", fragte plötzlich eine leise Stimme. Lucy Gray drehte sich um. Isadora Coral, oder vielmehr Coral, wie sie sie meistens nannte, stand an der Schwelle ihres Zimmers. Ihre blonden Locken fielen ihr sanft auf die Schultern. ,,Was ist los?", fragte Lucy Gray und legte das begonnene Kleid auf Seite. Coral lief zu ihr und kletterte auf ihren Schoß. ,,Ich habe schlecht geträumt. Da war wieder dieser Hirsch, der mich verfolgt hat." Lucy Gray strich vorsichtig über Corals Locken. Seit der Begegnung mit einem Hirsch schien Coral beinahe jede dritte Nacht von ihm zu träumen. Dabei hatte der Hirsch sie nur kurz angeschaut und war danach wieder weggelaufen.

,,Sollen wir singen?" Eine alte Tradition, mit der Lucy Gray aufgewachsen war, wenn die jüngeren Mitglieder der Covey schlecht geschlafen hatten, wurde immer gesungen. Es gab nie ein festes Lied dafür, oft sang Lucy Gray etwas Neues für Coral, doch manchmal sang sie eines ihrer älteren Lieder. ,,Ja, aber ich möchte zuhören, nicht mitsingen, sonst werde ich nicht müde." Sie lächelte über die Klugheit ihrer Tochter. 
,,Komm, ab ins Bett." Coral rannte zurück in ihren kleinen Raum. Lucy Gray blies die Kerze auf dem Holztisch aus und folgte ihrer fünfjährigen Tochter. Als Isadora Coral im Bett lag, begann Lucy Gray zu singen. Keines ihrer neuen Lieder, sondern eines aus der Covey-Zeit.

,,Everyone's born as clean as
a whistle
As fresh as a daisy and not a bit crazy
Staying that way is a hard row for hoeing
As rough as a briar, like walkin' through fire
This world, it's dark, this
world, it's scary
I've taken some hits, so no
wonder I'm wary
It's why I need you
You're as pure as the driven
snow
Everyone wants to be like a hero
The cake with the cream or the doer, not dreamer
Well, doing's hard work, but it takes some to change things"

Dann war Coral bereits lächelnd eingeschlafen. Lucy Gray bewunderte diese Eigenschaft.

Doch im nächsten Moment spürte sie, wie sich ihr Herz zusammenzog. Das Lied, das sie für Coriolanus geschrieben hatte. Sie stand leise auf znd verließ Corals Schlafzimmer. Als sie die Tür schloss, betrat sie ihr Zimmer.

Es war wahr. Es gab Zeiten, da vermisste sie ihn. So sehr, dass es ziemlich weh tat. Doch sie vermisste nicht den Coriolanus vom See. Sie vermisste den Coriolanus aus der Arena, den Coriolanus, der für sie nach Distrikt 12 zurückgekehrt war. Nicht den Coriolanus, der seinen Freund hängen ließ. Im wahrsten Sinne des Wortes.

Es gab auch Tage, an denen sie sich fragte, wie es ihm ging. Wie es seiner Familie ging. Ob er mittlerweile jemanden gefunden hatte, der ihm mehr als sie bedeutete. Ob er auch an sie dachte.

Lucy Gray kämpfte gegen ihre aufkommenden Tränen an. Sie durfte nicht wegen ihm weinen. Es wäre dumm, sinnlos. Stattdessen berührte sie ihr Schulterblatt. Dort, wo seine Kugel sie gestreift hatte. Die Stelle war vernarbt und verheilt, allerdings war es nicht leicht gewesen, die Wunde zu verarzten, eine Hütte zu bauen, und für diese einen Platz zu finden. Sie war mehrere Tage gelaufen, anfangs war sie noch gerannt, bis sie endlich weit genug weg war.

Weit genug weg von dem See.
Weit genug weg von Distrikt 12.
Weit genug weg von ihren Erinnerungen an Snow.

In der Anfangszeit war es ihr schwer gefallen, Essen im Wald zu finden. Doch relativ schnell erkannte Lucy Gray, an welchen Stellen man die perfekten Fallen aufstellte, wo es essbare Beeren gab und wo sie frisches Wasser herbekam. Wenn Coral sieben werden würde, würde Lucy Gray ihr diese Dinge beibringen.

Sie hatte Coriolanus nichts von Coral gesagt, zu dem Zeitpunkt wusste sie selbst nicht einmal von ihr. Manchmal fragte sie sich, wie es wäre, wenn er hier wäre. Bei ihnen.
Und manchmal fragte sie sich, wie er darauf reagiert hätte.

Lucy Gray ließ sich auf ihr knarrendes Bett fallen. Sie wusste nicht, ob es noch Hungerspiele gab. Vermutlich schon. Coriolanus würde sie mit aller Kraft weiterführen, dabei war sie sich sicher. Vielleicht hatte er doch nicht so wirklich gelogen, als er meinte, er habe sein altes Ich umgebracht. Denn das stimmte nun mal. Doch Sejanus Tod war anders gewesen. Warum hatte Coriolanus das nur getan? Sie verstand es nicht. Er meinte, sie könne ihm vertrauen. Den Fehler würde sie nie wieder machen. Wer weiß, wen er noch alles auf den Gewissen hatte.

Dabei half Coral auch nicht so wirklich. Sie sah im ziemlich ähnlich. Die hellblonden Haare, die helle Haut. Doch ihre Augen waren dunkelblau, nicht eisblau wie seine. Ständig wurde sie an ihn erinnert.

Für Lucy Gray war klar, dass Coriolanus die Grenze überschritten hatte. Die Grenze zum Bösen.
Doch er konnte zurückkommen, noch war es nicht zu spät.
Um sich zu beruhigen, trank Lucy Gray noch etwas Wasser. Kurze Zeit später schlief auch sie ein.

Sie war sich immer so sicher gewesen, damals das Richtige getan zu haben.
Doch mittlerweile war sie sich nicht mehr so sicher.

𝐒𝐡𝐚𝐝𝐨𝐰𝐬 𝐨𝐟 𝐈𝐧𝐧𝐨𝐜𝐞𝐧𝐜𝐞Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt