KAPITEL 38 ✶ Tiefe

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Aliana Duenaz ⌠ Distrikt Zwölf ⌡


Der Berg hatte ein Herz.

Nicht bloß ein Herz, sondern auch eine Lunge, er hatte Nieren und Gedärme und eine Kehle und einen Mund, der immer weit aufgerissen war, und wenn man in diesen Schlund hineinblickte, dann konnte man dort unten nichts als Dunkelheit erkennen.

Aber leer war er nicht. Das wusste Aliana.

Seine Eingeweide bestanden nicht aus Gewebe oder glitschigen Membranen, sondern aus Sandstein und Schiefer, durch seine Adern floss kein Blut, sondern Quellwasser und Erz, und dennoch wurde Aliana das Gefühl nicht los, dass sie mit diesem Koloss mehr gemeinsam hatte als mit all den anderen Tributen, die hier umherwuselten. Oder mit den Kapitolsbewohnern, die gerade zuhause vor ihrem Fernseher saßen, und sich fragten, was sie wohl als Nächstes tun würde.

Der Berg stand einfach bloß da. Er existierte. Ihn brauchte es nicht zu kümmern, was in oder auf ihm geschah. Niemand konnte ihn ärgern oder erheitern, ihn verängstigen oder frustrieren.

Er konnte weder lachen, noch weinen – er konnte weder Fragen stellen, noch welche beantworten.

Der Schlund, nein, die Schlucht, an deren Kante sie stand, war tief genug, dass sie den Boden mit bloßem Auge nicht sehen konnte. Die Finsternis wirkte so greifbar, so massiv, als würde sie selbst versuchen, an den Wänden nach oben zu kriechen, und der kühle Luftzug, der ihr aus dem Innern der Erde entgegenwehte, blies ihr ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht.

Der Berg atmete.

An der Seite tröpfelte ein kleines Rinnsal hinab, das Plätschern hallte von den zerklüfteten Felsen wider, doch wo es endete, wusste sie nicht.

Wenn Aliana jetzt einen Stein in das Loch warf, wie lange würde es dann wohl dauern, bis er unten aufkam?

Würde sie sofort sterben, wenn ihr Körper den Grund erreichte? Würde zuerst ihr Genick brechen, oder ihre Arme und Beine? Würde sie sich in eine unidentifizierbare Masse aus Fleisch und Knochen verwandeln, oder würde sie schwer verletzt dort liegenbleiben und erst nach Tagen in der Einsamkeit verdursten?

Vielleicht gab es dort unten ja überhaupt keinen Boden.

Alles hatte irgendwann ein Ende, nicht wahr? Schließlich mussten ja auch immer wieder neue Dinge beginnen. Aber wie konnte sie das so genau wissen, wenn sie das Ende, wenn sie den Boden nicht erkennen konnte?

Die Spielmacher würden es sicherlich wissen. Immerhin hatte sie dieses Loch selbst ausgehoben. Aliana würde sie wirklich nur zu gern danach fragen.

Vielleicht eines Tages. Man konnte ja nie wissen.

Der Schacht im Bergwerk war im Vergleich hierzu nichts als eine kleine Böschung am Wegesrand.

Sie konnte sich noch genau an Mischas Umrisse erinnern, wie er dort unten gelegen hatte, das Bein in einem unnatürlichen Winkel von seiner Hüfte abstehend, und alle zehn Finger über den staubigen Boden gespreizt. Der Fall war es nicht gewesen, der ihn getötet hatte. Die alte Bergwerksaufseherin hingegen schon. Aliana hatte ihr Genick beim Aufprall brechen hören. Und Marcus ... oder Magnus? Sie konnte sich nicht mehr an seinen Namen erinnern. Nur, dass er noch lange dort unten gelegen hatte. Vier Tage, um genau zu sein. Er hatte geweint, und sie angefleht, ihn da rauszuholen, er würde auch sicher niemandem verraten, was sie getan hatte, das hatte er geschworen. Aliana hatte ihn nur beobachtet. Jeden Tag nach ihrer Schicht. Irgendwann hatte er es aufgegeben, sie überzeugen zu wollen. Und dann war er schließlich gestorben.

me & the devil ✶  Die 59. Hungerspiele  ⌠mmff⌡Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt