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„Na komm schon, Schatz!" rief mein Vater von der Treppe aus zu mir hoch.

Ich stand in meinem leergeräumten Zimmer vor der Fensterbank und schaute ein letztes Mal aus dem Fenster. Ich musste die Tränen zurückhalten.
Es ist doch nicht so schlimm umzuziehen, beruhigte ich mich. Ob das wirklich stimmte, wusste ich in diesem Moment noch nicht.
Die Häuser in der Straße, den Spielplatz, auf dem ich früher viel Zeit mit meinen Freunden verbracht hatte, und überhaupt alles hier in diesem Dorf würde ich vermissen.

Werde ich jemals meine Freunde wiedersehen?
Ich seufzte und drehte mich zur Tür.

Mein Vater kam gerade auf mich zu, nahm mich am Arm und zog mich hastig den Flur entlang zu den Treppen. „So schwer kann es ja wohl nicht sein. Also bitte, Melina, reg dich nicht so auf! Es wird dir in unserem neuen Zuhause sicher gefallen. Du musst aufhören, immer alles so negativ zu betrachten," sagte er mit einem leichten Hauch seiner strengen Tonlage, die er sonst immer benutzte, wenn ich etwas falsch machte. Aber trauern, weil ich einfach so wegziehe, ist doch gar nicht falsch.
Erst vor ein paar Tagen, als das Packen schon begann, wurde mir Bescheid gesagt. Ich finde es bis jetzt nicht richtig von meinen Eltern, dass sie mir das angetan haben und mir nicht mal wirklich Zeit geben, mich noch ein letztes Mal von meinem Haus und dem ganzen Dorf zu verabschieden.

Am liebsten würde ich noch zu allen Bewohnern dieses kleinen Dorfes gehen, um mich zu verabschieden. Die ganzen Leute und Freunde, die ich hier kennengelernt habe. Meine alte Grundschule, die ich manchmal noch besuchte. Überhaupt meine alten Freunde, aber dafür blieb mir keine Zeit mehr. Die einzigen, die wissen, dass ich wegziehe, sind meine Lehrer und meine bescheuerte Klasse, die ich sicher nicht vermissen werde. Alle anderen wissen nicht Bescheid – naja, ich habe ja auch nicht mehr viel Kontakt mit den anderen Menschen in dieser Gegend.

So schnell wie es dann ging, saß ich auch schon im Auto auf der Rückbank. Um mich herum waren viele Kartons, Tüten und Koffer. Neben mir stand mein größter Rucksack, in dem alles Wichtige für diese Fahrt war: Wasser, etwas zum Lesen – auch wenn ich diese Sachen die ganze Fahrt über nicht angerührt habe. Ich bin eben nicht so eine Leseratte wie viele andere.

Aber naja, zusätzlich waren noch mein Handy, meine Kopfhörer und mein Ladegerät drin. Ohne diese zwei Sachen würde ich wohl nicht überleben können. Musik ist mein Ein und Alles. Wenn ich mich mal alleine fühle, nicht weiß, was ich tun soll, oder einfach zum Einschlafen, höre ich sie. Unterschiedlicher Stil von unterschiedlichen Sängern. Deswegen kann ich die Frage nach meinem Lieblingslied und -sänger nur schwer beantworten. Es gibt einfach so viele tolle Lieder und Sänger. Am liebsten mag ich reine Musik nur von Instrumenten, also ohne Gesang. Aber auch Pop-Songs mit Gesang finde ich wunderschön. Auf Rock, Jazz und K-Pop stehe ich nicht wirklich. Wenn Musik mit Gesang, dann in Englisch, die sind einfach die schönsten, die es gibt!

Ich sah aus dem Fenster. Die Landschaft verschwand langsam, während wir immer weiterfuhren. Die letzte Nacht hatte ich vor Aufregung kaum geschlafen, daher fühlte ich mich ziemlich müde.

Meine Mutter drehte sich zu mir um und schaute zwischen den Sitzen meines Vaters und ihrem zu mir nach hinten. „Alles in Ordnung? Was hat denn so lange gedauert vorhin?" Ihre Stimme war sanft und freundlich, im Gegensatz zu der meines Vaters.

Ich blickte sie kurz an, wandte mich dann aber schnell wieder ab. Ich kramte in meinem Rucksack und holte meine Kopfhörer heraus. Ich setzte sie auf und drehte die Musik ziemlich laut.

„Ach, lass sie. Aus ihrem Mund kommt sowieso nichts Vernünftiges", sagte mein Vater und drehte den Kopf meiner Mutter mit seiner rechten Hand zurück in die richtige Position. „Sei nicht immer so hart zu deiner Tochter. Sie steckt momentan in einer brenzligen Lage. Ich hatte dir gesagt, dass wir es ihr früher sagen sollten, aber nein – du machst mal wieder dein eigenes Ding!" Meine Mutter sprach nun lauter als zuvor mit mir.

Ich verstand nicht wirklich, worum es ging. Mir war nur klar, dass sich meine Eltern ab diesem Zeitpunkt nur noch stritten. Ich drehte die Musik noch lauter, um das Ganze nicht mehr hören zu müssen. Aber was sollte ich tun? Es sind erwachsene Menschen, die das eigentlich selbst klären sollten – zumindest normalerweise. Manchmal glaubte ich nicht, dass sie es überhaupt noch tun würden. Solange sie sich nicht scheiden ließen, war für mich alles in Ordnung. Eine überraschende Wendung in meinem Leben reichte mir völlig.

Ich lehnte mich gegen die Tür und beobachtete die immer unbekannter werdende Landschaft, die immer schneller vorbeizog. Für einen kurzen Moment schloss ich die Augen und hörte nichts mehr. Weder den Streit meiner Eltern noch die Musik. Vielleicht blendete ich es einfach aus. Oder mein Handy war ausgegangen, und meine Eltern hatten tatsächlich aufgehört zu streiten. Das wäre die Möglichkeit, die mir am meisten gefallen hätte.

Länger konnte ich darüber nicht nachdenken, denn wenige Minuten später schlief ich bereits ein.

****

Nach einer unbestimmten Zeit, vielleicht Stunden oder nur Minuten – mein Zeitgefühl war völlig durcheinander – spürte ich ein merkwürdiges Gefühl, das meinen ganzen Körper durchzog. Ich öffnete die Augen, doch da war nichts, nur ein Waldweg und überall Bäume, ganz viele unterschiedliche Bäume. Obwohl ich mich nicht oft in Wäldern aufhielt, kannte ich mich relativ gut mit Pflanzen aus. Doch keiner der hier wachsenden Bäume war mir vertraut. Vielleicht waren sie selten, dachte ich und schloss dann wieder die Augen. Lange konnte es nicht mehr sein, denn wir waren sicherlich schon eine ganze Weile unterwegs gewesen – so vermutete ich zumindest.

****

Plötzlich wachte ich von einem lauten Knall auf. Kurz darauf hörte ich meine Mutter fluchen. Ich setzte mich auf und ließ dabei versehentlich mein Handy fallen, das ich noch in der Hand hielt. Huch, das hatte ich ja auch noch in der Hand, dachte ich und bückte mich, um es aufzuheben. Zusammen mit meinen Kopfhörern, die ich gerade abgenommen hatte, stopfte ich es zurück in meinen großen schwarzen Rucksack, der immer noch neben mir stand. Ich hätte schwören können, dass er mir ebenfalls heruntergefallen war, aber anscheinend war dem nicht so.

Ich war noch völlig verwirrt und rieb mir die schmerzenden Augen. Offenbar war ich wieder eingeschlafen. Aber das war wahrscheinlich normal, oder? Schließlich war ich vermutlich gerade in meinem neuen Zuhause angekommen. Alles sah so fremd aus, als ich aus dem Fenster schaute. Das Auto meiner Eltern stand auf einem kleinen Berg, relativ am Rand. Als ich hinunterschaute, erkannte ich einen großen Sandstrand und dahinter ein glasklares Meer. Die Wellen schlugen gegen die Klippen, die ab und zu aus dem Wasser ragten. Aus irgendeinem Grund fühlte ich mich hier direkt wohl. Dass wir in ein anderes Land gezogen waren, hätte ich nicht gedacht. Woran ich das feststellte? Ganz einfach: Solch klare und einsame Strände mit einem so schönen Sandstrand und Meer kannte ich aus meiner Heimat nicht. Zumindest wäre es ungewöhnlich.

Mein Vater kam aus dem Haus und öffnete mir die Autotür, damit ich aussteigen konnte. Dabei sagte er: "Na komm schon, sieh dich erstmal um. Vielleicht ist es gar nicht so schlimm, wie du die ganze Zeit zuhause gesagt hast? Ich finde, es ist eigentlich ganz hübsch hier. Sogar der Ausblick von deinem Fenster auf das Meer ist großartig. Ich bin mir sicher, die Sonnenuntergänge und -aufgänge sind wunderschön." Mit diesen Worten schmiss er mich förmlich aus dem Auto. Ich schnaubte beleidigt, als er mich hinauswarf, und dachte darüber nach.

Schon seit Langem hatte ich meinen Vater nicht mehr so nett und begeistert mit mir reden sehen – oder bildete ich mir das nur ein?

Wie auch immer, ich wollte mich nun erstmal in Ruhe umsehen und nicht weiter über meine Eltern nachdenken müssen. Die werden das sicherlich schon selbst klären... und vielleicht wird es ja hier besser als zuhause. Vielleicht ändert dieser Umzug etwas an der Beziehung meiner Eltern. Mein Vater sieht jedenfalls glücklich aus – das ist schon lange nicht mehr vorgekommen.

Langsam nahm ich meine Koffer aus dem Kofferraum. Darin befanden sich ein paar Kleidungsstücke und wichtige Dinge, die nicht mehr in die Umzugskartons gepasst hatten. Meine Eltern hatten mir heute Morgen gesagt, dass bereits Umzugskartons hierher gebracht wurden. Na dann, ab in mein Zimmer und die Kartons auspacken. Wie langweilig – aber was muss, das muss eben.

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