Kapitel 1

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Fayns Lungen brannten. Bisher hatte er die von toten Körpern übersäte Wiese nicht verlassen. Der junge Mann beschleunigte seine Schritte. Einige Meter entfernt von ihm lag der Daisy Forest, der Wald, in dem Fayn einige der schönsten Stunden seiner Kindheit verbracht hatte, diese grüne Schönheit, welche ihn nun wie magisch anzog. Mit wenigen Sätzen rettete der junge Mann sich ins Unterholz und blieb für einen Moment stehen.
Fayns Atem ging stoßweise. Egal wie weit er sich von diesem grauenhaften Ort weg bewegte, die Bilder in seinem Kopf blieben und damit auch die Angst, der Ekel und die Hilflosigkeit. Und dennoch musste er fort, weg von der Wiese mit den Gänseblümchen, auf die er sich so oft zum Nachdenken zurückzog und welche bis jetzt einen sehr speziellen Platz in seinem Herzen gehabt hatte.
Aber all diese positiven Gefühle waren mit einem Schlag wie weggeblasen. Für Fayn strahlte die Wiese nicht mehr. Sie hatte sich verwandelt, binnen von wenigen Sekunden. Das Ergebnis? Ein blutroter See, übersät mit toten Körpern.
Langsam ging er weiter, wurde schneller und verfiel erneut in einen Sprint. Zweige peitschten Fayn ins Gesicht, rissen seine Haut auf. Er ignorierte den Schmerz, wollte überhaupt nichts mehr spüren, nur noch fliehen und hoffen, dass es irgendwo einen Ausweg aus diesem Albtraum gab. Sekunden später kam Fayn abrupt zum Stehen, so plötzlich, dass es ihn beinahe der Länge nach hingeschlagen hätte.
Ein Mann stand keine zwanzig Schritte von ihm entfernt neben einer Buche, den Rücken zu Fayn gekehrt. Die dunkelgrüne Stoffjacke reichte dem Fremden wenige Millimeter über die Kniekehlen, während eine schwarze Jeans seine Beine schmückte. Fayn stieß einen erschrockenen Laut aus. Es gab keinen Zweifel, vor ihm stand Aiven.
Der Mann, der ihm seit Monaten nicht mehr aus dem Kopf ging, der Mensch, mit dem Fayn sein restliches Leben hatte teilen wollen. Aber es war vorbei, das Glück zerbrochen und alles, was blieb, waren Erinnerungen. Erinnerungen an eine unbeschwerte Zeit jenseits von Angst und Schmerz. Fayn fluchte leise. Weshalb tauchte Aiven hier auf? Das Letzte, was er wollte, war, sich mit diesem Mann zu unterhalten.
Abermals entfloh die Sonne ihrem Wolkenpalast und tauchte den Wald in ein güldenes Licht. Blätter lösten sich von den Bäumen, wirbelten durch die kalte Februarluft, ehe sie irgendwo zwischen Büschen und Gräsern zur Ruhe kamen. Fayns Gedanken rasten. Er musste sich verstecken, egal wo, Hauptsache weit weg von der Wiese mit den Gänseblümchen und seinem ehemaligen Freund. Keinen Herzschlag später wandte Aiven sich um. Ihre Blicke trafen sich und Fayn vergaß beinahe zu atmen.
„Fayn?" Aiven hob erstaunt eine Braue. „Ich dachte, du bist auf dem Fest. Das war doch heute. Oder wurde es abgesagt?" Fayn schüttelte den Kopf. „Warum bist du dann nicht dort?", bohrte Aiven weiter. Fayns Augen fingen an zu brennen. In seinem Gehirn tobte ein wahrer Gedankensturm. Was sollte er sagen oder tun? Nichts? Die Wahrheit? Fliehen? Bleiben? Was würde passieren, wenn er ging? Die Situation würde dieselbe bleiben.
„Fayn? Alles okay?" Bevor Fayn selbst wusste, was er tat, hatte er sich mit wenigen Schritten in Aivens Arme befördert. Tränen flossen seine Wangen hinunter, vermischten sich mit seinem Schluchzen. „O...okay." , lachte Aiven. „Ich dachte nicht, dass du dich so freust, mich wiederzusehen." Fayn atmete hörbar aus und in derselben Sekunde schien sein Freund zu begreifen, dass es sich hierbei um mehr als bloß Freudentränen handelte.
Unerwartet ergoss sich der Regen über den beiden Männern.
„Hey, was ist los Fayn.", wollte Aiven wissen, ohne dem Wetterumschwung auch nur einen Funken Beachtung zu schenken. Fayn antwortete nicht. Seine Kehle schien wie zugeschnürt. „Hey."Aiven drückte ihn sanft von sich. „Erzählst du mir, was passiert ist?" Vor Fayns innerem Auge flackerten Bilder auf, Bilder welche die letzten Stunden seines Lebens bestimmt hatten. Dank diesen wusste er, wie es sich anfühlte, Todesangst zu verspüren.
„Sie sind tot. Sie sind alle tot.", war das einzige, was Fayn über die Lippen brachte und sogleich erfasste eine gewaltige Gänsehaut den Körper des jungen Mannes. „Tot? Wie meinst du das? Wer ist tot?" Aivens Stimme nach zu urteilen erschien ihm die gesamte momentane Situation äußerst skurril. Konnte man ihm dies übel nehmen? Wohl eher nicht.
Fayn sah zum Himmel hinauf. Dunkle Wolken tanzten am gräulichen Februarhimmel, vertrieben auch die letzten Strahlen der Sonne und schlossen sie ein, in einen Käfig, bestehend aus purer Finsternis. Mit einem Mal wirkte der Wald so kalt, so abweisend, als hätte er sich in ein frostiges Winterkleid gehüllt, entschlossen es niemals mehr abzulegen. Fayn versuchte alles um sich herum auszublenden, jegliche Gedanken zu vertreiben, die Erinnerungen verschwimmen zu lassen, bis sie endgültig verblassten.
„Fayn? Hey. Was ist passiert?" Abrupt wurde er von Aiven aus seinen Gedanken gerissen. „Kannst...kannst du bitte die Polizei rufen." „Die Polizei?" Fayn nickte. Die Polizei, sie würden kommen, den Tatort begutachten, ihm Fragen stellen, viele Fragen. Und dann? Auch die Beamten konnten nichts gegen die Gefühle in Fayns Innerem tun. Niemand konnte das, nicht einmal er selbst. Der junge Mann biss sich auf die Unterlippe. Seine Beine fühlten sich auf einmal so verdammt schwer an. Einfach die Augen schließen und diesem Moment entfliehen, das war das, was er sich wünschte. 

Das Grauen von Daisy Village🌼Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt