Fayn rollte sich auf den Rücken, versuchte sich ganz auf seinen Atem zu konzentrieren und fing an langsam bis zehn zu zählen. Je näher er der zu erreichenden Zahl kam, desto leichter fiel Fayn das Atmen. Befreit setzte der junge Mann sich auf. Der Regen hatte seine Kleidung inzwischen vollkommen durchnässt, doch Fayn war dies gleichgültig. Er wollte einfach nur in Ruhe gelassen werden. Diese nervenaufreibenden Halluzinationen sollten verschwinden! Mühsam rappelte er sich auf. In diesem Moment klingelte sein Handy und Fayn zog es seufzend aus der Hosentasche. Eine fremde Nummer schmückte das Display. Wer konnte das sein? „Fayn Musgrave?", meldete sich Fayn als er den Anruf schließlich zögernd entgegen nahm. „Mister Musgrave? Hier ist Inspector Paisley Johnstone. Mein Kollege McTyre und ich haben sie gestern aufgrund des Massakers befragt. Sie erinnern sich doch noch, oder?" Natürlich. Fayn nickte, obwohl er wusste, dass Johnstone diese Geste nicht sehen konnte. Die Kriminalpolizistin und ihr Kollege hatten ihn nur so mit Fragen gelöchert, was ja nunmal zu ihrem Beruf gehörte. „Mister Musgrave? Sind sie noch dran?" „Ja...ja, klar. Ich bin...noch dran." „Gut. Wie geht es ihnen denn?", hakte die Polizistin nach. „Naja, es geht. Ich habe mich schon besser gefühlt.", gab Fayn zu und hoffte, dieses Gespräch würde nicht allzu lange dauern. „Oh, das kann ich verstehen, Mister Musgrave." Das Mitgefühl in Paisley Johnstones Stimme war nicht zu überhören. „Ich wollte ihnen auch nur mitteilen, dass wir Neuigkeiten haben. Diese würde ich ihnen aber ungern am Telefon mitteilen. Hätten sie morgen Zeit, vorbei zu kommen?" „Klar.", antwortete Fayn ohne weiter über die Frage nachzudenken. „Sehr schön. Sie kennen unser Gebäude in London?" „Ja." „Okay. Dann bis morgen. Auf Wiedersehen.", verabschiedete sich die Kriminalpolizistin. „Auf Wiedersehen.", gab Fayn leise zurück und Johnstone legte auf. Neuigkeiten? Der junge Mann sah zu Caspar O'Sullivans Finger hinunter. Hatten Johnstone und ihre Kollegen die Täter gefunden? Fayn drehte sich um und lief in das Dickicht des Waldes hinein. War er nicht eigentlich hierher gekommen, um sich seinen Ängsten zu stellen? Doch was sollte er tun? Wie konnte er seinen Halluzinationen entgegentreten, ohne dass sie ihn physisch und psychisch zerstörten? Fayn beschleunigte seine Schritte, verlor sich immer mehr zwischen den Bäumen des Daisy Forest. Noch immer sah es nicht so aus, als würde der Regen nachlassen und Fayn war froh darüber. Er liebte diesen Wald und besonders wenn es regnete. Alle Gerüche um ihn herum, jede Emotion, die er mit diesem Ort verband, waren Fayn so vertraut, erinnerten ihn an den kleinen Jungen, welcher sorgenlos zwischen den Sträuchern spielte und an die beiden Menschen, die ihn dann immer hatten suchen müssen. Fayn schmunzelte bei dem Gedanken an seine Vergangenheit. Seine Eltern. Er seufze. Über zehn Jahre waren seine Eltern nun schon tot. Natürlich existierte der Schmerz noch, doch die schönen Erinnerungen siegten sehr oft über die Trauer.
Fayn rannte. Energisch blies ihm der kühle Oktoberwind die Strähnen ins Gesicht, welche an der klitschnassen Stirn des Mannes kleben blieben. Lange war Fayn ziellos durch den Daisy Forest gewandert, ehe er ganz plötzlich in einen Sprint verfallen war. Der Regen hatte nach einiger Zeit nachgelassen und dennoch blieb der Himmel seiner blassgrauen Farbe treu. Fayn setzte mit einem gekonnten Sprung über einen am Boden liegenden Baumstamm hinweg, blieb mit dem Fuß an einer abstehenden Wurzel hängen und schlug mit dem Gesicht voran auf dem harten Waldboden auf. Ein stechender Schmerz jagte durch Fayns Nase und es dauerte keine Sekunde, bis er das warme Blut aus seiner Nase rinnen spürte. Seine Mundwinkel bogen sich nach oben und keinen Herzschlag später verfiel Fayn in lautes Gelächter, welches ihn selbst vollkommen schockierte. Wie konnte er in seinem Zustand lachen? Er litt unter Halluzinationen, hatte ein Massaker überlebt. Nichts davon war besonders einfach und schon gar nicht lustig. Als hätten Fayns Emotionen seine Gedanken gelesen, wandelte sich das herzhafte, von bereits wahnsinnigen Zügen getränkte Lachen in ein leises Weinen um. Salzige Tränen vermischten sich mit klebrigem Blut und tropften als rote Flüssigkeit auf die schokoladenbraune Erde nieder. Fayn hob den Kopf, nahm einen Atemzug von der frischen kalten Herbstluft und schloss die Augen. Dieser Gefühls Umschwung machte ihm Angst und zugleich wusste er tief im Inneren, dass auch dieser mit seiner Psyche zu tun hatte. Aber wie sollte er gegen all das vorgehen? Fayn öffnete die Lider. Er musste sich jemandem anvertrauen. Aber wem? Einem Psychiater? Nein! Entschieden schüttelte Fayn den Kopf. Er würde zu keinem Psychiater gehen! Auf keinen Fall! Mit klopfendem Herzen erhob sich der junge Mann. Aiven! Er würde Aiven alles erzählen, jedes noch so kleine Detail. Und dann? Aiven war kein Experte, was konnte er schon ausrichten? Fayn tastete seine verletzte Nase ab. Hoffentlich war diese jetzt nicht gebrochen. Auf der anderen Seite, wen interessierte ein gebrochener Knochen, wenn hinter jeder Ecke neue Halluzinationen lauern konnten? Menschen, die eigentlich gar nicht da sein durften. Fayn wandte sich um, stieg über den Baumstamm, vorsichtig, um noch nicht noch einmal hinüberzufallen und folgte dem Waldweg in Richtung Daisy Village. Wie spät war es wohl? Fayn rieb sich fröstelnd die Oberarme und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Halb vier. Kurz nach eins war er von Zuhause losgegangen, das hieß, er hatte mehr als zwei Stunden an der Wiese und im Wald verbracht. Aber was spielte das für eine Rolle? Das Vorhaben, sich seinen Ängsten und seiner Schuld zu stellen, war gescheitert. Fayn biss sich auf die Unterlippe. Die Frage war, hatte er es überhaupt versucht?
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Das Grauen von Daisy Village🌼
Misterio / SuspensoFayn Musgrave wird Zeuge eines furchtbaren Verbrechens, welches ihn bis ins Mark erschüttert. Doch die Täter und all diejenigen, die sich retten konnten, verschwinden nach dem Ereignis spurlos. Einzig Fayn weiß, was passiert ist und gerät immer mehr...