𝟙𝟟・Familientrubel

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Dass es aber so turbulent werden würde, hätte ich nicht gedacht. Und dass, obwohl die Familie Yılmaz noch nicht einmal komplett ist.

Enissa plappert ununterbrochen und scheint entschlossen, mir ihre ganze Lebensgeschichte und die ihrer großen Familie zu erzählen. Metin, sonst eher zurückhaltend und ruhig, scheint inmitten seiner Lieben aufzublühen und beteiligt sich erstaunlich lebhaft am Gespräch. Als kurz darauf auch noch seine Mutter Helga und sein Vater Mustafa zu uns stoßen, ist der Trubel komplett.

Und ich liebe es, einfach alles. Auch wenn es mich gleichzeitig ziemlich überfordert, weil ich so viel Leben im Privaten einfach nicht gewohnt bin.

Das Essen ist sehr lecker. Es ist eine wilde, aber stimmige Mischung aus türkischen und deutschen Komponenten, die zeigt, wie gut beide Kulturen kulinarisch harmonieren können.

»Ich weiß gar nicht, wie ich mich dafür revanchieren kann, dass ihr mich hier so gut aufnehmt«, sage ich irgendwann, als Helga mir eine große Portion Baklava serviert.

»Das machen wir gerne«, winkt sie lächelnd ab. »Wir freuen uns sehr, dich endlich kennenzulernen. Metin hat uns schon so viel von dir erzählt, dass wir das Gefühl haben, dich schon lange zu kennen.«

Überrascht schaue ich Metin an, der sich in diesem Moment sichtlich unwohl in seiner Haut fühlt.

»Mama, du übertreibst!«, ermahnt er sie verlegen.

»Wirst du etwa rot?«, hakt Enissa kichernd nach und erntet einen bitterbösen Blick, der das Kichern nur noch verstärkt.

»Metin hat auch viel von euch erzählt«, versuche ich ihn zu retten. Das heißt aber nicht, dass ich es vergesse. Sobald wir alleine sind, werde ich da definitiv nachhaken.

»Hoffentlich nur Gutes«, lacht Enissa und zwinkert mir zu. »Eigentlich sind wir eine ganz normale Familie. Nichts Aufregendes.«

Metin verdreht die Augen. »Normal ist relativ«, sagt er trocken, woraufhin seine Schwester einen empörten Aufschrei von sich gibt.

Wir lassen uns den Nachtisch schmecken und werden von Mustafa mit Kaffee versorgt.

Irgendwann zwischendurch verschwindet Metin kurz. Ich bin so in ein Gespräch mit Enissa über unsere Lieblingsbücher vertieft, dass ich seine Rückkehr gar nicht bemerke.

Plötzlich schiebt sich etwas vor mein Gesicht: der Brief. Metin legt ihn vor meinen Teller und schaut mich eindringlich an.

»Ich will ihn jetzt nicht aufmachen. Das ist sowieso eine Absage«, murmele ich.

Metin hebt den Brief wieder hoch, betrachtet ihn von allen Seiten und zuckt mit den Schultern. »Auf dem Umschlag ist kein Stempel mit ›Absage‹. Das weißt du erst, wenn du reingeschaut hast.«

Ich stöhne auf. »Bitte, Metin. Ich habe jetzt keine Lust, mich damit zu beschäftigen. Das mache ich später.«

»Darf ich ihn öffnen?«

»Ja, von mir aus. Tu, was du nicht lassen kannst.«

Mit dem Brief in der Hand setzt sich Metin auf seinen Platz. Ruhig reißt er den Umschlag auf, faltet den Brief auseinander und beginnt zu lesen. Es ist nur eine Seite, was meine Vermutung bestätigt, dass es sich um eine Absage handelt. Trotzdem beobachte ich ihn angespannt und mit jeder Sekunde, die ohne Reaktion vergeht, steigt meine Nervosität.

Mein Gott, wie lange kann es dauern, so eine blöde A4-Seite zu lesen, auf der alle wichtigen Informationen schon im Betreff stehen sollten?

Auch Enissa beugt sich neugierig über die Schulter ihres Bruders und liest mit.

»Worum geht es denn?«, fragt sie in neutralem Ton.

»Lu hat sich um ein Stipendium beworben, damit sie ihr Studium finanzieren kann«, erklärt Metin.

»Hm«, macht Enissa.

Die beiden machen mich wahnsinnig! Was soll ich mit so einer Reaktion anfangen?

»Jetzt sagt endlich, was drinsteht!«, platzt es aus mir heraus.

Enissa und Metin schauen sich an, ihr Pokerface sitzt immer noch perfekt.

»Himmel! Jetzt hör auf, das arme Mädchen zu nerven!«, mischt sich Helga ein.

Zum Thema ›Mädchen‹ hätte ich viel zu sagen, aber die Grundaussage stimmt.

Metins Mundwinkel zucken, aber er gibt endlich nach. »Na schön. Sehr geehrte Frau Hertzog. Wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu können, dass Ihre Bewerbung für das Stipendium unserer Stiftung erfolgreich war. Herzlich laden wir Sie zu einem ersten Kennenlernen ein. Das Gespräch findet am 26. April um 10 Uhr in unserem Büro statt. Bitte bringen Sie alle relevanten Unterlagen mit. Wir freuen uns darauf, Sie persönlich kennenzulernen und mehr über Ihre Ziele und Ambitionen zu erfahren.«

Ich starre ihn ungläubig an und es dauert eine ganze Weile, bis ich begreife, was er da vorgelesen hat. »Das ist eine Einladung«, flüstere ich, mehr zu mir selbst als zu ihm.

Metin bricht in ein herzliches Gelächter aus und seine Augen leuchten vor Freude. »Ja, was hast du denn gedacht? Lu, du hast es tatsächlich geschafft!«

»Ich ... ich kann es kaum fassen«, stottere ich und greife instinktiv nach dem Brief. Meine Hände zittern vor Aufregung, als ich ihn öffne und die darin enthaltenen Worte lese. Es ist tatsächlich wahr. Ich bin in der nächsten Runde.

»Am 26. April? Oh mein Gott, das ist nächste Woche!«

Ein Schwall von Emotionen überwältigt mich - Erleichterung, Freude, Überraschung - und ich spüre, wie meine Augen feucht werden. Ich hebe meinen Blick und sehe Metins strahlendes Lächeln, das seine Grübchen deutlich hervorschauen lässt. Warum genau fällt mir das jetzt so deutlich auf?

Er springt auf und umarmt mich fest. Enissa, die vor Energie nur so sprüht, hüpft herum wie ein kleiner Flummi und umarmt uns beide gleichzeitig. Auch Helga und Mustafa gratulieren mir herzlich. Ihre Worte sind ehrlich und ich kann ihnen gar nicht genug dafür danken.

Ich habe es wirklich geschafft. Das Stipendium ist zum Greifen nah. Es fühlt sich an wie ein Traum - ein wunderbarer Traum, der schon bald Wirklichkeit werden könnte.

 Es fühlt sich an wie ein Traum - ein wunderbarer Traum, der schon bald Wirklichkeit werden könnte

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The Devil's RoommateWo Geschichten leben. Entdecke jetzt