May trat kräftig in die Pedale. Über ihr bäumten sich dunkle Gewitterwolken kathedralartig auf.
Hoffentlich würde sie rechtzeitig wieder zuhause sein. Mittlerweile bereute sie ihre Entscheidung, Chris die Hausaufgaben zu bringen.Nicht nur missachtete sie seine Grenze, ihn nicht daheim zu besuchen, sondern sie würde wahrscheinlich sowohl durchnässt werden als auch morgen einen ziemlichen Muskelkater haben.
In der Schule hatte sie Mrs. Parker angesprochen, ob sie Chris' Adresse bekäme, um ihm die Hausaufgaben zu bringen. Ihre ehemalige Englischlehrerin hatte sie angestrahlt und den Wohnort mitgeteilt.
May hatte sich gefragt, ob sie wohl Bescheid wusste, dass zwischen ihrem Sohn und May etwas war. Andeutungen hatte Mrs. Parker jedenfalls keine gemacht, wofür ihr May sehr dankbar war.Chris' Zuhause lag in einem Nachbarort. Gute zwanzig Minuten mit dem Rad entfernt. Es war eine Strecke, die größtenteils an Maisfeldern entlangführte. Monokulturen. Ein trauriger Anblick.
Als endlich die ersten Häuser in Sicht kamen, war May ganz schön aus der Puste. Sport war nicht gerade ihr Steckenpferd.
Sie radelte bis zu der Straße, die Mrs. Parker ihr genannt hatte und suchte dann die Hausnummer. Bei dem Anblick des rot gestrichenen Schwedenhauses zog May eine Augenbraue nach oben. Das Gebäude passte so gar nicht zu dem Rest. Trotzdem, oder gerade deswegen, war es für May das schönste Haus von allen.
May stellte ihr Fahrrad in der Einfahrt ab. Aus einem geöffneten Dachfenster drang laute Schlagzeugmusik. Unüberhörbar übte hier jemand. Überrascht fragte sich May, ob Chris es war, der da gerade spielte. Sie würde ihn unbedingt fragen müssen. Es gab noch so viel, das sie nicht von ihm wusste.
May trat auf die überdachte Verenda und klingelte. Sie wartete eine Weile. Unsicher, ob sie gehört worden war, ging sie zur Einfahrt zurück und schaute zu dem Dachfenster.
Gerade als sie laut Chris' Namen rufen wollte, öffnete sich die Haustür einen Spaltbreit.Ein großer Mann mit den gleichen sanften, braunen Augen wie Chris betrachtete sie misstrauisch.
"Sind Sie von der Polizei?", er klang abweisend.May schaute den Mann neugierig an und runzelte verwirrt die Stirn.
Bevor sie etwas antworten konnte, fuhr der Mann aufgeregt fort.
"Glauben Sie, wenn Sie nicht mit dem Auto kommen, erkenne ich Sie nicht?"May strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Was war hier los?
"Ich bin May Summers und gehe mit Chris in die Schule. Ich bringe ihm seine Hausaufgaben", May drehte sich zur Seite, damit der Mann ihren Rucksack sehen konnte.Doch statt ihn zu beruhigen, weiteten sich seine Augen.
"Was auch immer da drin ist, wagen Sie es nicht, es auszupacken. Verschwinden Sie!", ruckartig wurde die Tür zugeknallt.May atmete tief aus. Was war das denn gewesen? Und was sollte sie jetzt tun?
Sie knabberte an ihrem Fingernagel, als in der Ferne plötzlich ein leises Donnergrollen ertönte.Unsicher schaute sie in den von dunkelblauen Wolken verhangenen Himmel. Als sie einen Regentropfen auf ihrer Nase spürte, schloss sie für einen Moment die Augen.
Es war eine bescheuerte Idee gewesen, hierher zu kommen. So viel stand fest.
Hektisch kramte sie die Hausaufgaben aus ihrem Rucksack und bemerkte dabei die plötzliche Stille. Der Klang des Schlagzeugs war verstummt.Gerade als sie sich auf den Weg zur Veranda machen wollte, um die Arbeitsblätter für Chris in den Briefkasten zu werfen, wurde die Haustür schwungvoll aufgerissen.
Chris stand wie ein zorniger Gott vor ihr und sein Auftritt wurde dramatisch von einem erneuten, diesmal lauteren Donnern begleitet.
May erstarrte mitten in der Bewegung."Was tust du hier?", Chris' Frage war nicht mehr als ein Flüstern. Noch nie hatte sich seine Stimme so bedrohlich angehört.
Unsicher wich May einen Schritt zurück und hob die Papiere wie ein schützenden Schild vor sich.
"Ich bringe deine Hausaufgaben."Chris funkelte sie mit einem finsteren Blick an.
"Ich habe dich nicht gebeten, sie mir zu bringen."May zuckte zusammen. Die Regentropfen waren mittlerweile zahlreicher geworden.
"Ich wollte nur nett sein."Chris war mit drei großen Schritten bei ihr und riss ihr die Arbeitsblätter aus der Hand. Dann drehte er sich auf der Stelle um und ging zurück zum Haus. Dort warf er die Hausaufgaben achtlos auf den Flurboden hinter sich.
"Es ist nicht nett, hierher zu kommen, wenn ich dir ausdrücklich gesagt habe, dass ich nicht möchte, dass du zu mir nach Hause kommst", seine eine Hand krallte sich in den Türrahmen, während er seine andere zur Faust ballte."Ich bringe dir nur die Hausaufgaben, ich will keine verdammte Hausführung", May verschränkte ihre Arme vor der Brust.
"Die wirst du auch nicht bekommen", Chris strich sich durch sein lockiges Haar. "Ich fasse es einfach nicht, dass du meine Grenzen nicht respektierst. Du hättest mir schreiben sollen, ob ich das hier will. Woher hast du überhaupt meine Adresse?"
"Ich wollte dich überraschen. Ich wollte einfach nur freundlich sein. Wenn ich gewusst hätte, dass mein Freund auf diese Weise reagiert, wäre ich nie und nimmer auf diese Idee gekommen. Und deine Adresse habe ich im Übrigen von deiner Mum, die nichts dagegen zu haben schien, wenn ich dir die Hausaufgaben bringe. Im Gegenteil."
"Du hast eine völlig falsche Vorstellung von Freundlichkeit. Und ganz sicher bin ich nicht der Freund von jemanden, der mich so geringschätzt, dass er mein Nein nicht akzeptiert."
Einen Moment starrten sich die beiden an. Regentropfen glitten über Mays Gesicht und vermischten sich mit ihren Tränen. Mit einer schnellen Bewegung wischte sie sich über ihr Gesicht.
"Ist die von der Polizei immer noch da? Du darfst nicht mit denen reden!", leise, aber unüberhörbar, drang die Stimme des Mannes zu May.
Chris' Körper spannte sich plötzlich an.
"Geh ins Wohnzimmer, Dad. Wir sind hier fertig."
Zum zweiten Mal in wenigen Minuten wurde vor May die Tür zugeknallt.Regungslos stand sie in der Einfahrt und schaute zu dem hübschen Häuschen. Mittlerweile regnete es stark und eine Gänsehaut hatte sich auf ihrem gesamten Körper ausgebreitet.
Eine Bewegung am Vorhang des Fensters neben der Tür ließ sie aus ihrer Starre erwachen. Sie war sich sicher, für einen kurzen Augenblick das feindselige Gesicht von Chris' Vater zu sehen. Was hatte es mit ihm auf sich? Diese ganze Situation war einfach nur absurd.
Mit einem Knall ging das Dachfenster zu und ein heller Blitz zuckte über den Himmel. Fluchend stieg May auf ihr Rad. Als ein lautes Donnergrollen sie zusammenzucken ließ, kam ein Auto langsam die Einfahrt hinaufgefahren.
Es bremste mit genügend Abstand zu May. Hinter den hektisch hin und her springenden Scheibenwischern, konnte May das verwirrte Gesicht von Mrs. Parker erkennen.
Vorsichtig fuhr May an dem Auto vorbei. Mrs. Parker ließ schnell ihr Fenster hinunter.
"May! Alles okay? Willst du nicht reinkommen?", sorgenvolle Augen betrachteten sie.May schüttelte kaum merklich ihren Kopf und fuhr eilig davon.
DU LIEST GERADE
Believe in you (ONC 2024)
RomanceMays letztes Jahr an der High School steht an. Ein Jahr noch, bevor sie die Erwartungen ihres Vaters erfüllen und Jura studieren muss. Ein letztes Jahr, bevor sie die Stadt, mit der so viel Schmerz verbunden ist, verlassen kann. Doch dann muss May...