Herbstsonne

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Die Tage hatte es merklich abgekühlt. May zog fröstelnd ihre dünne, schwarze Strickjacke enger um sich. Schnellen Schrittes lief sie zu der Wiese mit dem Bach, wo Chris meistens seine Mittagspausen verbrachte.

Und wirklich. Da saß er. In einem grauen Kapuzenpulli und dunkelblauen Jeans. Versunken in irgendeinem Buch, sodass sie nur sein lockiges Haar, nicht aber sein Gesicht, erkennen konnte.

Trotzdem wusste sie genau wie es aussah. Zu oft hatte sie es schon studiert, während Chris konzentriert an einer Aufgabe, die sie ihm gestellt hatte, arbeitete. Sie wusste um den Leberfleck an seiner rechten Wange. Die kleine Narbe über der linken Augenbrauen und dem Hauch von Sommersprossen um seine Nase.

May schob sich eine Haarsträhne hinter ihr Ohr und ging langsam auf ihn zu. Kurz bevor sie vor ihm stand, schaute er auf. Seine braunen Augen trafen die ihren und in Mays Bauch flatterten plötzlich Hunderte von Schmetterlingen. May schluckte schwer, als würde das den aufgebrachten Schwarm vertreiben.

"Es tut mir leid, dass ich die letzten Tage so abweisend war. Es liegt nicht daran, dass ich dich nicht mehr treffen möchte. Für die Nachhilfe natürlich. Treffen, um dir Nachhilfe zu geben. Jedenfalls, was ich sagen wollte.  Ich musste meine Bewerbungen für Princeton und Harvard schreiben und hatte keine Zeit für irgendetwas anderes", May redete viel zu schnell, wie sie es immer tat, wenn sie ein schlechtes Gewissen hatte.

Chris schaute sie belustigt an.
"Wow, Princeton und Harvard. Für welchen Studiengang bewirbst du dich?"

May zog eine Augenbraue hoch. War ihre Entschuldigung gerade ignoriert worden? Hatte sie sich ganz umsonst Vorwürfe gemacht, als sie Chris' wieder und wieder auf einen anderen Tag vertrösten musste? Immerhin hatte er sie gefragt. Jeden Tag.

Aber wahrscheinlich hatte sie sein Interesse fehlinterpretiert.
Natürlich war es ihm nicht um sie gegangen.

Was hatte sie sich auch gedacht? Sie gab ihm Nachhilfe. Es war nicht so, als würde er sie daten wollen.
Bei dieser Erkenntnis spürte May einen merkwürdigen Stich in ihrem Herz.

"Für Jura", May betrachtete ihre schwarzen Turnschuhe, die mit dem saftigen Grün der Wiese verschwammen. Still verfluchte sie sich, dermaßen nah am Wasser gebaut zu sein.

"Du klingst nicht gerade begeistert", Chris' Stimme war sanft. Beinahe zögerlich.

May schaute zu ihm. Er lächelte sie vorsichtig an.

"Mein Vater möchte, dass ich das studiere."

"Und was möchtest du?"

May zuckte mit den Schultern.
"Was liest du da?"

"Charles Bukowskis The laughing heart."

"Sagt mir nichts."

"Macht nichts. Willst du dich setzen?", Chris klappte das Buch zu und deutete neben sich.

May nickte und holte dann aus ihrem Rucksack eine Brotdose aus Edelstahl heraus. Als sie sie öffnete, strömte ihnen der Duft von Äpfeln und Zimt entgegen.

"Hinmlisch. Was ist das?", Chris beugte sich interessiert darüber.
"Das sind Apfeltörtchen. Bedien dich."
Chris nahm sich eines und biss hinein.
"So gut! Hast du die gemacht?"
May nickte.
"Vielleicht solltest du lieber Konditorin werden, statt Jura zu studieren."

Nachdenklich betrachtete May ihr Gebäck. Dann schaute sie zu Chris.
"Was willst du nach der Schule machen?"

"Ich möchte Buchhändler werden", genüsslich nahm er einen zweiten Bissen.

"Im Ernst?"

"Ja klar, warum nicht?", er runzelte seine Stirn, während er das restliche Törtchen auf aß.

"Keine Ahnung. Ich dachte du wirst vielleicht Lehrer wie deine Mum. Was macht denn dein Dad?"

Chris' Blick verdunkelte sich.
"Mein Dad war Übersetzer in einer Firma."

Mays Herz raste. Verdammt. Sie war nicht gerade in ein riesiges Fettnäpfchen getreten, oder?

"War? Das tut mir leid. Ist er? Ich meine, ich wollte ... ", ihre Wangen glühten.

Chris rettete sie, indem er sie unterbrach: "Er ist nicht tot, falls du das meinst. Er arbeitet nur nicht mehr."

Erleichtert atmete May auf.

"Dann ist er schon im Ruhestand?"

"So in der Art."

Nachdenklich betrachtete May den blauen Himmel.
"Und deine Eltern sind damit einverstanden, dass du Buchhändler werden willst?"

"Ja, warum sollten sie es nicht sein?"

May zuckte mit den Schultern. Was sollte sie auf diese Frage antworten? Chris würde nicht verstehen, dass es für ihren Vater keine andere Option als dieses Studium gab.

Die Sonne schien warm auf sie herab. Vögel zwitscherten und sogar das leise Plätschern des Bachs war zu hören. May wurde warm und sie zog ihre Jacke aus.

Sie spürte Chris' Blick auf sich und spähte vorsichtig zu ihm. Er fixierte ihre Rücken als wäre er ein Kunstwerk. Genau dort, wo die ersten Schriftzeichen ihres Tattoos zu sehen waren. Als er bemerkte, dass sie zu ihm schaute, lächelte er.

"Dein Tattoo fasziniert mich."

"Warum?", May errötete und sah schnell weg.

"Ich weiß es nicht", er machte eine Handbewegung als wollte er darüber streicheln. May spürte die Wärme seiner Hand über ihrer nackten Haut. Doch kurz bevor er sie berührte, zog er seine Hand zurück.

"Weißt du, wenn du nicht Jura studieren willst, dann mach etwas anderes. Und wenn du noch nicht weißt, was dieses Andere sein soll, dann nimm dir ein Jahr Auszeit und finde es heraus", Chris lächelte ihr aufmunternd zu.

May lachte. Aber es klang bitter.
"In welcher Welt lebst du? Hast du nicht gesehen, wie klein unsere Wohnung ist? Unsere verdammte Dusche ist in der Küche. Mein Dad schläft auf dem Sofa und erst seit mein Bruder ausgezogen ist, habe ich ein Zimmer allein. Ich habe nicht den Luxus, mir eine Auszeit zu nehmen. Für die Unis bekomme ich Stipendien. Und danach einen gut bezahlten Job. Als Juristin bin ich jemand. Mehr als das Mädchen aus der schlechten Nachbarschaft."

"Und das sagst du oder dein Dad?", Chris sah sie herausfordernd an.

May reckte ihr Kinn und verschränkte die Arme vor ihrer Brust.
"Du hast ein Talent für unangebrachte Fragen."

"Das sehe ich nicht so. Du bedeutest mir etwas und ich frage nach. Das nennt man Interesse an einer Person haben."

"Wieso fängst du dann nicht mit Fragen an, wie was mein Lieblingseis ist", May funkelte ihn gefährlich an.

"Das ist Zitroneneis", Chris grinste sie belustigt an.

"Woher weist du das? Stalkst du mich?"

"Bitte was? Vergleichst du mich gerade mit einem Stalker, der ohne seinen Grenzen zu kennen eine fremde Person in ihrer Privatsphäre belästigt?", das Lächeln war aus seinem Gesicht verschwunden.

"Das sagt man doch nur so."

"Vielleicht sollte man aber nicht alles einfach nur so sagen, sondern sich über die Bedeutung Gedanken machen", Chris sah May an und sie erkannte etwas in seinen Augen, das sie darin noch nie gesehen hatte. Wut. Sein ganzes Wesen schien auf einmal verändert. Es hatte etwas Abweisendes und Unbändiges bekommen. May schauderte.

"Na schön, ich werde achtsamer mit meiner Sprache sein. Trotzdem finde ich dich merkwürdig. Stellst du allen Leuten tiefgründige Fragen über ihr Leben?"

Chris beugte sich zu May und schaute ihr in die Augen. Er war auf einmal so nah, dass sie seinen warmen Atem auf ihrer Haut spürte.

May erstarrte, während er seine rechte Hand langsam zu ihrem Gesicht hob. Sie öffnete ihre Lippen und sein Blick senkte sich auf ihren Mund.

"Nur dir", flüsterte er.

Believe in you (ONC 2024)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt