Sonnenschein

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Die Zeit schien stehen geblieben zu sein. May schaute in Chris' braune Augen. Der Blick, mit dem er sie betrachtete, bereitete May eine Gänsehaut. Ihre Hände lagen auf seiner Brust, wo sie mit dem Bändel seines Kapuzenpullis spielten.

"Dein Dad kommt erst morgen, richtig?", Chris' Stimme klang rau, als er ihr zärtlich über ihren Kopf strich.

Mays Hals fühlte sich trocken an. Mehr als ein Nicken brachte sie nicht zustande.

Chris lächelte und in seinen Augen blitzte es. Schweigend nahm er Mays Hand und führte sie in ihr Zimmer. Es lag im Halbdunkel. Große, schwere Wolken hatten sich wieder vor die Sonne geschoben.

Er blieb vor ihrem ungemachten Bett stehen und wollte sie gerade küssen, als May einen Schritt zurück trat.

"Ich habe noch nie ... ", sie brach mitten im Satz ab, weil sie nicht wusste, wie sie darüber reden sollte.

"Wir müssen auch nicht, May. Wir haben Zeit. Ich warte gerne, bis du soweit bist", Chris lächelte ihr aufmunternd zu.

May atmete tief durch.
"Doch, ich will. Es ist nicht mein ertes Mal, falls du das denkst. Es ist nur, dass ich noch nie mit jemanden zusammen war, der mir so viel bedeutet hat. Und das macht mir Angst", May biss auf ihrer Unterlippe.

Chris machte einen Schritt auf sie zu und schloss sie in seine Arme.

"Ich auch nicht, May. Ich hatte bisher eine Freundin, die ich zwar mochte, aber der Schwerpunkt unserer Beziehung lag auf körperlicher Anziehung. Du hingegen ... ", Chris vergrub sein Gesicht in ihrem Haar.
"Ich bin ein netter Kerl. Alle mögen mich. Sie kennen mich nicht anders. Aber du. Du hast meine andere Seite gesehen. Die Dunkelheit in mir. Du hast an jenem Tag einen Teil von mir kennengelernt, den ich meistens kontrollieren kann. Aber nicht immer. Und trotzdem. Trotzdem bist du jetzt hier. Und ich könnte nicht glücklicher sein. Du hast mich auf eine Art und Weise an dich gefesselt, die ich nie für möglich gehalten hätte. Ich bin dir ganz und gar verfallen, May."

May schob Chris ein paar Zentimeter von sich weg. Sein Blick brannte auf ihr.

Ein merkwürdiges Gefühl durchströmte May.
Hier stand er. Chris Sonnenschein Parker. Ihr früherer, heimlicher Schwarm. Der Junge, den sie, seit ihre Mutter sie mit nichts als einer unsäglichen Traurigkeit zurückgelassen hatte, gemieden hat. Weil sie seine permanent gute Laune nicht ertrug. Weil sie nicht in sein ständig lächelndes Gesicht sehen wollte.

Jetzt, da sie ihn besser kannte, kam sie sich auf einmal naiv und unfair vor. Sie hatte sich von seiner positiven Ausstrahlung täuschen lassen und gedacht, er würde ihre Traurigkeit, die dunklen Flecken in ihrem Herzen nicht verstehen. Vielleicht sogar vor ihnen zurückschrecken.

Aber genau wie sie, hatte auch er mit seinen Schatten zu kämpfen. Nur war sein Kampf ein völliger anderer als ihrer. Was, wenn er gerade deswegen so hell strahlte, weil die Flecken in seinem Herzen umso düsterer waren?

Plötzlich wusste May, dass, was auch immer sein Geheimnis sein mochte, sie es akzeptieren könnte. Sie würde ihm zuhören, wie er ihr zugehört hatte. Sie würde nicht von seiner Seite weichen und ihn erst wieder gehen lassen, wenn er sie nicht mehr wollen würde.

"Sag bloß, du hast dich in mich verliebt?", May boxte Chris liebevoll in die Brust.

"Natürlich habe ich das. Spätestens als du unerschrocken im Sommer in den See gesprungen bist, hat mein Herz dir gehört", Chris hatte seine Hände auf ihre Wangen gelegt und sein Lächeln ließ hunderte von Schmetterlingen in Mays Bauch fliegen.

Sie schlang die Arme um seinen Hals und strahlte ihn an.
"Das ist gut, weil ich habe mich auch in dich verliebt."

Chris' Lächeln wurde noch breiter. Schnell umfasste er sie an der Taille und zog sie mit sich auf ihr Bett.

In May löste sich etwas, von dem sie geglaubt hatte, es würde sie ihr ganzes Leben lang begleiten.
Sie versank in Chris' Berührungen und Küssen, während immer mehr von ihren Kleidungsstücken auf dem Boden landeten.

Auf einmal verschwanden die dunklen Wolken und heller, warmer Sonnenschein flutete den Raum.

Überrascht hielt Chris für einen Moment inne und blickte zum Fenster. May betrachtete ihn lächelnd.

Das war es. Das war Glück. Dieser Augenblick. Die Sonne. Die Wärme. Chris. Sie hatte nie gedacht, dass so wenig nötig wäre, um sich vollkommen zu fühlen.

Believe in you (ONC 2024)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt