Sonnenuntergang

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May griff mit ihrer Hand in die große Popcorntüte. Kurz darauf schmeckte sie einen süßen, leicht kartonartigen Geschmack in ihrem Mund.
Heimlich drehte sie ihren Kopf und schaute zu Chris. Ihre Augen weiteten sich, als sie bemerkte, dass er sie ebenfalls ansah.

Ein breites Grinsen umspielte seinen Mund, der in dem flackernden Licht der Leinwand etwas Verführerisches an sich hatte. Eine Locke war ihm in die Stirn gefallen. In Mays Bauch purzelten tausende von kleinen Kobolden umher. Ihr Herz pochte wie wild, als sie sich leicht vorbeugte und ihm das Haar behutsam auf die Seite strich.

Gerade als sie ihren Arm wieder senkte, spürte sie Chris' warme Hand sachte über die ihre streichen. May bekam eine Gänsehaut und hielt regungslos in der Bewegung inne. Chris streichelte sie weiter und fuhr mit seinen Fingerspitzen über ihren Unterarm. Die Berührung war unglaublich sanft und in Mays Körper breitete sich eine angenehme Wärme aus.

Als auf einmal das Licht anging, blinzelte May und sah sich verwirrt um. Einige Leute waren bereits aufgestanden und steuerten dem Ausgang entgegen.

"Der Film ist aus", Chris' Hand löste sich von ihr.

"Oh, okay", May nahm die Popcorntüte und ihren leergetrunkenen Becher.

Gemeinsam verließen sie den Kinosaal, warfen den Müll beim Rausgehen in die dafür vorgesehenen Behälter und traten hinaus in den kühlen Herbstabend.

"Wir könnten noch am Fluss spazieren gehen?", Chris zog den Reißverschluss seiner Jacke zu.

May nickte und sie ließen die in Grüppchen vor dem Kino stehenden Menschen hinter sich und gingen die Straße hinunter zum Fluss. Auf dem ruhig dahinfließenden Wasser spiegelte sich der rosa- und lilafarbene Himmel.

"Wie schön", May blieb stehen, um den Sonnenuntergang zu betrachten.

"Allerdings", Chris war neben sie getreten. Kurz blickte sie zu ihm und bemerkte, dass er nicht auf das Wasser, sondern zu ihr schaute.

May errötete.

"Es war schön mit dir im Kino. Das sollten wir öfter machen", Chris fuhr mit seiner Hand so nah über ihre Wange, dass er sie fast berührte.

Mays Herz raste. Ihre Augen verloren sich in denen von Chris. Wie konnte es sein, dass sie auf einmal nichts sehnlicher wünschte, als von ihm berührt zu werden?

"Ich habe einen Schnitt zu halten und ich fühle mich schlecht, wenn ich mit dir ins Kino gehe, während ich Punkte für Nachhilfe bekomme. Außerdem möchte ich nicht, dass du mich ständig einlädst." May machte einen Schritt zurück.

Chris lachte und fuhr sich mit seiner Hand durch sein Haar. Verdammt. Er sah so gut aus.
"Ich habe dich genau einmal eingeladen und das Popcorn hast du uns spendiert. Aber wir können uns nächstes Mal auch wieder zum Lernen treffen."

"Das wäre mir lieber. Ich kann dir zwar nichts beibringen, aber wir können uns gegenseitig abfragen oder über die Lektüre sprechen", May trat von einem Fuß auf den anderen und schaute auf den Boden.

"Klar", Chris klang enttäuscht und May  sah zu ihm. Ihre Blicke trafen sich. Auf einmal war jegliches Zeitgefühl verschwunden. May versank in Chris' Augen. Nach einer Weile wanderte ihr Blick zu seinem Mund und sie machte unwillkürlich einen Schritt auf ihn zu.

Plötzlich raste ein Fahrradfahrer auf sie zu und rief wütend: "Der Weg gehört euch nicht allein!"

Hastig sprangen May und Chris auf die Seite. Als der Fahrradfahrer weg war, fuhr sich Chris durch seine Locken und lächelte May schief an.

"Dir ist es ziemlich ernst mit Harvard und Princeton, oder?", Chris' Stimme klang nervös.
May strich sich eine Haarsträhne hinter ihr Ohr und seufzte.
"Meinem Dad ist es wichtig, weil er meint, die Mutter meiner Mutter würde ihn dann mögen."

Auf einmal nahm Chris ihre Hand und drückte sie liebevoll. May schaute auf ihre Hand in der seinen. Sie fühlte sich schwitzig an und Mays Herz schien aus ihrer Brust springen zu wollen.

Chris runzelte Stirn, während sein Daumen über ihren Handrücken strich.
"Warum das?"

May schluckte schwer.

"Du musst nicht darüber reden, wenn du nicht willst. Sollen wir ein bisschen laufen?"

May nickte. Schweigend liefen sie an dem Fluss entlang. Neben sich einen Himmel, der mittlerweile in ein tiefes Rot getaucht war. Chris hielt nach wie vor ihre Hand und May konnte nicht anders, als zu lächeln.

Nach einer Weile sagte sie: "Meine Großeltern mütterlichseits sind etwas ... sagen wir leistungsorientiert. Mein Opa war früher Richter und meine Oma Ärztin. Meine Mutter ist ihr einziges Kind. Und naja. Sie hat meinen Bruder bekommen, als sie im zweiten Semester ihres Kulturwissenschaftsstudiums war. Von ihrem Freund, einem Trucker. Es wäre optimistisch zu sagen, meine Großeltern hätten das auch nur annähernd okay gefunden."

"Hat deine Mum das Studium abgebrochen?"

"Oh nein. Meine Mutter hat weiterstudiert und nach ihrem Bachelor noch mich bekommen. Meine Großeltern sind wohl ziemlich ausgeflippt. Aber meine Mutter hat einfach weitergemacht. Als ich drei Jahre alt war, hat sie ihren Masterabschluss gemacht und als ich in die Schule kam, hatte sie ihren Doktor fertig."

"Wow. Klingt nach Superwoman", Chris sah beeindruckt aus.

May schnaubte.
"Meine Mutter war immer müde und schnell gereizt. Ich habe mir oft gewünscht, eine andere Frau Mum nennen zu können. Erst als ich in die Schule kam, wurde es besser. Da hat sie nur meinen Bruder und mich gehabt. Mein Dad und sie hatten davor ziemlich oft Streit. Ich denke, er wollte, dass sie sich mehr um uns Kinder und sich selbst kümmert und sie hat letztlich eingewilligt"

"Das war bestimmt eine Umstellung für sie."

"Ja, wahrscheinlich. An ihrer schlechten Laune hat es langfristig leider nicht viel geändert. Es muss schlimm gewesen sein, plötzlich nur mit seinen Kindern Zeit zu verbringen und auf einmal nicht permanent Stress zu haben."

"So habe ich das nicht gemeint", Chris blieb stehen und nahm ihr Kinn zwischen seinen Daumen und Zeigefinger.

May seufzte.
"Lass uns über etwas anderes reden. Meine Mutter ist nicht gerade mein Lieblingsthema."

"Klar. Über was würdest du gerne reden?", seine Finger wanderten von ihrem Kinn über ihren Kiefer und strichen dann ihren Hals hinab.

"Wie wäre es, wenn wir uns übermorgen zum Lernen mal bei dir treffen?", Mays Stimme klang heiser und sie räusperte sich schnell.

"Nein", Chris ließ seine Hand sinken.

May zog eine Augenbraue nach oben.
"Einfach nein? Ich habe dir gerade von meiner Mutter erzählt, was fast niemand weiß und du sagst nichts weiter als Nein?"

"Ich will nicht, dass jemand zu mir nach Hause kommt", Chris seufzte.
"Ich kann nicht darüber sprechen. Wirklich. Selbst wenn ich es wollte. Ich habe es der Person versprochen."

May musterte ihn skeptisch.
"Und es ist eine wichtige Person, nehme ich an?"

Chris sah auf einmal unendlich traurig aus. Nervös kreiste sein Daumen über ihren Handrücken.
"Ja, es ist mein Dad."

Believe in you (ONC 2024)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt