Die Tage reihten sich aneinander, wie ein einziger langandauernder Albtraum. Zwischen May und ihrem Vater herrschte eisernes Schweigen. Noch nie zuvor hatte sie den Tag herbeigesehnt, an dem ihr Vater wieder unterwegs sein würde.
Die Nächte waren kalt geworden. Morgens überzog feiner Frost die Wiesen und das Laub auf dem Boden.
May trug mittlerweile ihre warmen, schwarzen Wollpullis und lange, schwarze Jeans. Ihr Haar steckte sie jeden Morgen zu einem strengen Dutt zusammen, als wollte sie jede Farbe an sich zum Verschwinden bringen.
Die Schultage durchlebte May wie hinter Milchglas. Sie war anwesend, ohne wirklich da zu sein. Chris lächelte ihr mit traurigen Augen zu, wenn er sie sah. Aber May brachte es nicht über sich, das Lächeln zu erwidern. Ihr Herz war mit einer dünnen Schicht Frost überzogen.
Es war der letzte Schultag vor dem Wochenende. Zwei Tage, an denen sie sich in ihrem Zimmer wie eine Gefangene fühlen würde. Die anderen Räume mied May, um ihren Vater nicht begegnen zu müssen.
Ihre Lehrerin entließ die Klasse ein paar Minuten vor dem Schlussgong der letzten Stunde. Sie waren mit dem Stoff gut durchgekommen.
Hastig packte May ihre Sachen zusammen und eilte nach draußen. Vielleicht könnte sie noch ein paar Minuten für sich alleine haben, bevor ihr Vater sie abholen käme.
Ruckartig blieb May stehen, als die Eingangstüren der Schule hinter ihr zufielen. Am Ende der Treppen stand ein junger Mann mit verwuschelten, dunkelblondem Haar. Seine blauen Augen schauten besorgt zu ihr.
"Was machst du denn hier?", langsam ging May auf ihren Bruder zu.
"Ich freue mich auch, dich mal wiederzusehen. Ist schon eine Weile her", er grinste sie an.
May zog eine Augenbraue nach oben.
"Im Ernst Jackson. Was machst du hier?""Na was wohl? Dich abholen", ihr Bruder legte seinen Arm um ihre Schultern.
May musterte ihn misstrauisch, was Jackson dazu veranlasste, seine Augen zu verdrehen.
"Ich weiß, ich bin nicht immer der beste Bruder gewesen, aber das heißt nicht, dass du mir nichts bedeutest", er wuschelte durch ihren Dutt."Hey!", May schob seine Hand beiseite.
"Schon gut", Jackson lachte und gemeinsam liefen sie zu seinem Auto, das er sich mit zwei seiner Freunde teilte.
Nachdem sie eingestiegen waren, wandte sich Jackson mit ernstem Gesichtsausdruck zu May: "Dad ist ziemlich sauer."
"Ist mir egal, was er ist. Er ist für mich gestorben", May zog energisch an dem Sicherheitsgurt und schnallte sich an.
"May! Sag so etwas nicht. Du weißt, dass Dad manchmal überreagiert", Jackson legte ebenfalls den Sicherheitsgurt um und drehte am Zündschlüssel.
"Hat er dir erzählt was passiert ist? Dass er meine Beziehung zu Chris ruiniert hat?", May ließ sich in den weichen Sitz sinken, während ihr Bruder ausparkte.
"Nein, er hat mir noch gar nichts erzählt. Aber du bist mir jemanden zusammen? Wieso weiß ich davon nichts? Ist dieser Chris hier auf der Schule? Kenne ich ihn?", Jackson fuhr das Auto auf die Hauptstraße. Es war wenig Verkehr.
"Ich war mit jemanden zusammen, bevor unser Vater alles kaputt gemacht hat", May blickte wütend aus dem Fenster an ihrer Seite. Dann fügte sie errötend hinzu: "Chris Parker."
Jackson drehte kurz seinen Kopf in Mays Richtung.
"Mrs. Parkers Sohn?!""Ja. Wieso fragst du das so komisch?", sie verschränkte ihre Arme vor der Brust und schaute ihren Bruder herausfordernd an.
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Believe in you (ONC 2024)
Roman d'amourMays letztes Jahr an der High School steht an. Ein Jahr noch, bevor sie die Erwartungen ihres Vaters erfüllen und Jura studieren muss. Ein letztes Jahr, bevor sie die Stadt, mit der so viel Schmerz verbunden ist, verlassen kann. Doch dann muss May...