Es war Punkt vier Uhr, als May hörte, wie die Glastür von dem Lernraum aufging. Schnell schaute sie von ihrem Buch auf und blickte direkt in ein Paar sanfte, braune Augen.
Augen, die sie seit gestern nicht mehr aus ihrem Kopf bekam.May räusperte sich und senkte ihren Blick. In dem weißen T-Shirt sah Chris verdammt gut aus. Als wäre es extra für seine sonnengebräunte Haut und seinen trainierten Körper gemacht worden.
"Hi", Chris setzte sich ihr gegenüber auf einen Stuhl. Aus seinem Rucksack holte er einen Block und ein Mäppchen und legte beides sorgfältig auf den Tisch vor sich. Dann schaute er May erwartungsvoll an.
"Hi, schön, dass du da bist. Ich meine. Also am besten fangen wir gleich an", May warf Chris einen kurzen Blick zu. Wieso war sie nur so aufgeregt?
Aber Chris schien nichts zu bemerken, denn er nickte nur zustimmend."Mit welchem Fach sollen wir beginnen? Mathe oder Englisch?", mit einem Ruck schlug May das Buch vor ihr zu. Sie war fest entschlossen, sich von Chris Parker nicht nervös machen zu lassen.
"Wie du willst", Chris lehnte sich vor. "Damenwahl."
May blinzelte und schluckte schwer.
"Dann fangen wir mit Englisch an. Sollen wir über das Werk sprechen, das als erstes behandelt wird oder schon mal den anderen vorgreifen? Du hast sie ja alle schon einmal gelesen, oder?"
"Hast du denn die anderen Bücher bereits gelesen?", Chris zog eine Augenbraue nach oben.
May nickte."Wann?"
"In den Sommerferien."
"In den Sommerferien? Hast du da nichts anderes zu tun, als für die Schule zu lernen?"
"Ich habe auch noch gearbeitet."
Chris starrte sie an. Sein Lächeln war verschwunden.
"Damit ich das richtig verstehe: In den besten und längsten Ferien des Jahres hast du gelernt und gearbeitet?"May verschränkte ihre Arme vor der Brust.
"Bei dir hört sich das an, als wäre es etwas Schlechtes."
"Nein, das ist es nicht. Es ist fleißig und engagiert. Aber hattest du denn irgendetwas vom Sommer? Ich meine, etwas, das sich in dein Herz gebrannt hat? In deine Erinnerung?"
May biss sich auf die Lippe."Gibt's nicht", Chris fuhr sich durch sein ohnehin schon verwuscheltes, braunes Haar.
"Okay, pass auf. Wir werden über das erste Buch, das Mrs. Kellon im Unterricht behandeln wird, sprechen. Aber nicht hier", mit diesen Worten räumte er seine Sachen wieder in seinen Rucksack.
"Was? Warum nicht hier?", May saß wie versteinert auf ihrem Platz.Mit zwei Schritten war Chris neben ihr, packte ihre Sachen in ihre Tasche und ging neben ihr in die Hocke.
"Heute ist vielleicht der letzte schöne Tag und ich werde nicht zulassen, dass er wie die anderen auch, einfach an dir vorüberzieht."*
May konnte nicht glauben, dass sie sich so leicht hatte überreden lassen. Aber hier saß sie nun. Auf Chris' Vespa. Die Stadt hatten sie schon vor einer Weile hinter sich gelassen. Der Wind wehte angenehm kühl in Mays erhitztes Gesicht, während ihre Arme Chris' Taille umschlossen.
Sie hätte ewig weiterfahren können. Doch kurze Zeit später bog Chris in einen Waldweg ein. Sofort wurde es etwas kühler. Schatten tanzten auf dem Kiesboden.
Nach ein paar Metern parkte Chris und sie stiegen ab.May zog ihren Helm ab und reichte ihn Chris, der sie unterhalb des Sitzes verstaute.
"Weißt du, wo wir sind?", grinsend ging Chris los.
"Nein", May folgte ihm.Es dauerte nicht einmal eine Minute, bis der Wald sich plötzlich lichtete und ein kleiner See vor ihnen lag. In der Sonne glitzerte er wie ein Diamant.
"Wow", flüsterte May.Die beiden setzten sich auf den Steg, der ein paar Meter in den See hinein ragte, zogen ihre Schuhe aus und ließen ihre Beine im Wasser baumeln.
"Dachte ich mir, dass es dir gefallen wird", Chris schenkte May ein warmes Lächeln.
"Warum machst du das alles?", May schaute Chris nachdenklich an.Er seufzte und schaute aufs Wasser.
"Weißt du, ich fand du warst schon immer ein besonderer Mensch. Ich weiß noch, wie du mich mit Fragen gelöchert hast, wenn wir unterwegs waren. Ich erinnere mich an dein Lachen. Ich habe noch nie einen Menschen so lachen gehört. Wie wenn die Sonne aufgeht.Und dann plötzlich, von einem Tag auf den anderen, warst du die Königin der Traurigkeit. Du hast nicht mehr gelacht und kaum noch gelächelt.
Du wolltest nichts mehr mit mir zu tun haben. Was natürlich okay ist. Ich meine, du musst nicht mir mir befreundet sein oder so. Aber es hat sich immer so leicht mit dir angefühlt. Unbeschwert.
Und naja, ich denke, ich möchte einfach nur wieder dein Lachen hören. Jetzt, da ich wundersame Weise vielleicht die Möglichkeit dazu habe."
Chris warf May einen Seitenblick zu. Sie schaute auf den See. Ihre Augen waren tiefblau wie das Wasser. Ihr blondes Haar wehte im Wind. Sie sah schön aus. Das Mädchen, das Chris einst unglaublich gemocht hatte, war zur Frau geworden.
Auf einmal stand May auf. Chris schaute sie erschrocken an. Aber sie ging nicht weg, sondern zog sich ihr T-Shirt und ihren Rock aus. Hastig blickte Chris zur Seite, als sie nur noch in Unterwäsche neben ihm stand. Trotzdem hatte er das Tattoo, das sich entlang ihrer Wirbelsäule erstreckte, gesehen.
Als er ein Platsch hörte und kühle Wasserspritzer ihn trafen, sah er wieder zu ihr.
Mit gleichmäßigen Bewegungen schwamm sie langsam durch den See.Chris schüttelte den Kopf und legte sich mit dem Bauch auf das warme Holz des Stegs. Er schloss die Augen. Nur das Summen von ein paar Bienen und Mays Schwimmzüge waren zu hören.
Nach einer Weile kam sie aus dem Wasser. Leise legte sie sich neben ihn. Es fehlten nur ein paar Zentimenter, dann würde sein Körper ihre nackte Haut berühren.
"Du überrascht mich, May", Chris öffnete seine Augen und drehte seinen Kopf, der auf seinen Oberarmen ruhte, zu ihr.
"Warum?""Wo soll ich anfangen? Wie wäre es damit, dass ich niemals damit gerechnet hätte, dass du unter deinen ewig schwarzen Klamotten knallgrüne Unterwäsche trägst. Oder dass du plötzlich in einen kalten See springst. Oder dass du ein Tattoo am Rücken hast, dessen Bedeutung ich nur zu gerne wissen würde."
Ein breites Grinsen überzog ihr feines Gesicht.
"Ich verrate dir, was mein Tattoo bedeutet, wenn du mir verrätst, warum du immer, immer lächelst?"Chris kniff die Augen zusammen. Sein Blick wurde ernst.
"Wenn du lächelst, fragt niemand, wie es dir geht."Mays Grinsen verschwand. Sie stützte sich auf ihren Unterarmen ab und fühlte auf einmal Chris warme Haut an der ihren. Mit einem zaghaften Lächeln schaute sie ihn an.
"Das sind chinesische Schriftzeichen und sie bedeuten Believe."
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Believe in you (ONC 2024)
RomansaMays letztes Jahr an der High School steht an. Ein Jahr noch, bevor sie die Erwartungen ihres Vaters erfüllen und Jura studieren muss. Ein letztes Jahr, bevor sie die Stadt, mit der so viel Schmerz verbunden ist, verlassen kann. Doch dann muss May...