Nieselregen

23 4 14
                                    

May lief zum vierten Mal durch die Wohnung. Alles war aufgeräumt, das Geschirr gewaschen und ihr Bett gemacht. Zwar hatte sie nicht vor, Chris in ihr Zimmer zu lassen, aber sicher war sicher.

Sie biss auf ihrer Unterlippe und schaute auf die Uhr. Kurz vor drei.
Ein Blick in den Spiegel versicherte ihr, dass nichts darauf hindeutete, dass dieses Treffen für sie irgendeine Bedeutung haben könnte. Sie gab nur Nachhilfe. Bei sich zuhause. Weil die Bücherei keinen Lernraum frei hatte.

May ließ sich auf das Sofa fallen und legte ein Kissen auf ihr erhitztes Gesicht. Warum hatte sie nicht einen anderen Tag zum Lernen vorgeschlagen? Sie mussten sich nicht jeden Tag treffen. Sie war zu nichts verpflichtet.

May seufzte. Sie musste nichts. Aber sie wollte.

Als es klingelte, fuhr May hoch. Hastig stand sie auf und warf sich erneut einen Blick im Spiegel zu. Sie öffnete die knarzende Wohnungstür und rannte das kühle Treppenhaus hinunter.

Mit einem Ruck zog sie die Tür auf und wäre beinahe mit Chris zusammengestoßen, der sich unter das schmale Vordach zwängte. Sein Haar war feucht und hing ihm verwegen im Gesicht. Seine Hände hatte er in die Taschen seiner Jeanshose gesteckt. Auf seinem schwarzen T-Shirt war eine Regenbogenflagge abgebildet.

May starrte ihn an. Er sah gut aus. Und dass sie zwei Zentimeter größer war als er, störte sie kein bisschen. In diesem Moment wollte sie nichts sehnlicher als durch dieses perfekt verwuschelte Haar fahren, über seine muskulösen Arme streichen und ... .

Stopp!

Was war los mit ihr? Stellte sie sich gerade ernsthaft vor, wie es wäre, Chris Parker zu berühren? Ausgerechnet er, der niemals ihre Traurigkeit verstehen würde? Der nicht mal wusste, was das überhaupt war?

Andererseits.

Was hatte es mit diesen vielen Andeutungen auf sich? Bestand vielleicht die Möglichkeit, dass er Schmerz und Verzweiflung ebenfalls kannte?

"Ich habe wirklich nichts dagegen, stundenlang von dir angesehen zu werden. Aber könntest du das bitte drinnen fortsetzen? Es regnet nämlich etwas und dieses Dach ist so schmal, dass mein Rücken langsam nass wird."

May riss die Augen auf und trat hastig zur Seite, sodass Chris hereinkommen konnte.

"Wir wohnen im zweiten Stock", Mays Stimme klang kratzig und eilig marschierte sie los.

Vor der Wohnung zog Chris seine Schuhe aus. Als er die Tür hinter sich schloss, verzog er sein Gesicht.
"Die müsste mal wieder geölt werden."

"Mhm", May trat von einem Bein auf das andere. Sie standen mitten im Wohnzimmer. Mit dem großen Sofa und der Wohnwand war der maximale Platz des Zimmers ausgeschöpft.

Chris' Blick schweifte über die Fotos auf dem Regal über dem Fernseher.
Sie zeigten ein Hochzeitsbild, Bilder von May und einem Jungen in verschiedenen Altersstadien. Außerdem gab es ein Bild, in dem May breit lächelnd die Frau aus dem Hochzeitsbild umarmte. Die beiden sahen sich verblüffend ähnlich und Chris erinnerte sich wieder an Mays Mum. Sie hatte köstliche Muffins gebacken.

"Sollen wir anfangen? Ich dachte, wir lernen in der Küche", May öffnete eine von drei abzweigenden Türen. Gemeinsam gingen sie in die Küche. Direkt hinter der halb geöffneten Tür auf der linken Seite war eine Dusche. Daneben standen ein Tisch und zwei Stühle. Auf der rechten Seite befand sich eine Küchenzeile.

Chris setzte sich und stellte seinen Rucksack auf den Linoleumboden, der schon bessere Tage gesehen hatte.

"Willst du was trinken?", May stellte zwei Gläser und eine Karaffe mit Wasser auf den Tisch. Dann setzte sie sich ebenfalls. Mit ihren abgekauten Nägeln trommelte sie auf dem Tisch. Seit Chris die Wohnung betreten hatte, hatte er kaum ein Wort gesagt. Er hatte sich nur mit großen Augen umgesehen. Nicht auf eine herablassende oder neugiere Art, sondern so, als würde die Wohnung ihm erzählen können, wer May wirklich war.

Es war ein Fehler gewesen, ihn hierher einzuladen. Was hatte sie sich nur gedacht?

"May, kann ich dich was fragen?", Chris fixierte sie mit seinen Augen.

May nickte und erwiderte seinen Blick.

"Wohnst du allein hier?"

Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus und die Anspannung aus ihren Körper wich.

"Nein. Mein Dad wohnt mit mir hier. Aber er ist Trucker und zur Zeit unterwegs", sie zog das Mathebuch zu sich, das bereits auf dem Tisch gelegen hatte.

"Du musst es mir natürlich nicht sagen. Es geht mich nichts an, aber ich habe die Bilder gesehen", Chris brach mitten in Satz ab, als er sah, wie sich Mays Miene verfinsterte.

"Und du willst jetzt wissen, was aus den beiden anderen geworden ist? Es geht dich wirklich nichts an. Aber meinetwegen. Der Junge ist mein Bruder. Er ist letztes Jahr mit seiner Freundin zusammengezogen und geht hier aufs College. Er ist cool, ihr würdet euch bestimmt verstehen. Und die Frau'", May schenkte beiden Wasser in die Gläser. "Das ist meine Mutter. Du erinnerst dich vielleicht an sie. Sie ist mittlerweile Professorin in einer großen Stadt. Ich habe vergessen, in welcher."

"Wieso hast du das vergessen?", Chris zog eine Augenbraue nach oben.

"Dafür dass du weißt, dass dich das alles nichts angeht, fragst du ziemlich viel nach. Aber sei's drum: Unwichtiges vergisst man, oder nicht?", schwungvoll schlug May das Buch auf.

"Es tut mir leid, May. Ich wollte dir nicht zu nahe treten. Es ist nur, ich mag dich. Schon seit ich dich in deinem ersten High School Jahr kennengelernt habe. Und ich merke, dass deine Mum dich verletzt haben muss. Ich kenne sie nicht. Ich erinnere mich nur noch daran, dass sie verdammt leckere Muffins gebacken hat. Und ich vermute, dass sie der Grund sein könnte, weswegen du dich plötzlich so verändert hast. Du musst mir gar nichts sagen, aber du sollst wissen, dass ich für dich da bin. Ich wäre sehr gerne dein Freund."

May starrte auf die aufgeschlagenen Seiten, die sie nur verschwommen wahrnahm.

"Meine Mutter bedeutet mir nichts. Man kann nicht von jemanden verletzt werden, der einem gleichgültig ist", ihre Stimme klang brüchig und sie trank hastig ihr Glas leer.

Dann schob sie geräuschvoll den Stuhl zurück, stand auf und holte aus dem Kühlschrank einen Teller mit Schokomuffins.

Scheppernd knallte sie ihn auf den Tisch, bevor sie sich wieder setzte und das Mathebuch vor ihr knallrotes Gesicht hob.

"Und die verdammt leckeren Muffins habe ich gebacken", sie senkte das Buch und schaute zu Chris. Regungslos saß er auf seinem Stuhl und beobachtete den Sturm in Mays Augen. Etwas von dieser Ruhe ging auf May über. Sie legte das Buch behutsam auf den Tisch.

"Greif zu und dann legen wir los. Seite neunzehn Aufgabe drei", May nahm sich einen Muffin und biss hinein. Chris hatte recht. Ihre Muffins waren göttlich.

Believe in you (ONC 2024)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt