May saß wie immer alleine in der Mensa an einem Tisch am Fenster. Es war Mittagspause, Besteck klapperte und die anderen Schülerinnen und Schüler unterhielten sich aufgeregt miteinander und lachten laut.
Leise prasselte Regen gegen die Scheiben. Bis gerade eben hatte noch die Sonne gescheint, aber nun war der ganze Himmel mit grauen Wolken verhangen.
May seufzte und versuchte, sich auf das Buch zu konzentrieren, das vor ihr auf dem Tisch lag. Sie hatte ihren Kopf auf ihrer Hand abgestützt und knabberte hin und wieder lustlos an ihrem Sandwich.
"Darf ich mich setzen?", Chris' tiefe Stimme ließ May erschrocken zusammenzucken.
Sie schaute zu ihm auf. Er trug eine helle Jeans und einen dunkelblauen Hoodie. Er sah gut aus, auch wenn tiefe Augenringe seinem Gesicht einen müden Ausdruck verliehen. Sein Blick war auf sein Tablett gerichtet, das er in den Händen hielt.Seit seine Mum gestern bei ihr gewesen war, wusste May nicht, was sie tun sollte. Auf der einen Seite wollte sie Chris umarmen, ihm beistehen und für ihn da sein. So wie es sich anhörte, hatte weder jemand von der Sache mit seinem Dad mitbekommen noch hatte Chris irgendjemanden davon erzählt. Aber gerade für solche Zeiten waren Freunde und Freundinnen doch eigentlich da. Niemand sollte das alleine durchstehen müssen.
"Klar", May lächelte ihm zaghaft zu. Sie wollte unbedingt wissen, was er mit ihr besprechen wollte. Immerhin hatte seine Mutter deutlich zu verstehen gegeben, dass er nicht den ersten Schritt machen würde. Was also wollte er?
"Meine Mum war bei dir", Chris setzte sich, ohne sie dabei anzuschauen. In seinem Gesicht war kein Lächeln, kein freundliches Pokerface. Stattdessen hatte er tiefe Sorgenfalten auf der Stirn. Merkwürdigerweise hatte May gerade jetzt das Gefühl, den wahren Chris zu sehen und nicht bloß den ewigen Sonnenschein, als den er sich sonst immer ausgab.
"Ja", May beschloss so wenig wie möglich zu sagen, bis sie wusste, wohin das hier alles führen sollte.
Chris seufzte und fuhr sich durch das Haar.
"Was hat sie gesagt?", er versuchte unbekümmert zu wirken, aber es gelang ihm nicht. Nervös spielte er mit seiner Gabel im Salat herum."Hat sie dir das nicht gesagt?", May sah Chris überrascht an.
Er schüttelte den Kopf.
Wieso wusste er, dass seine Mum bei ihr gewesen war, aber nicht, was sie geredet hatten? Gestern hatte es sich angehört, als hätten er und seine Mum ein enges Verhältnis.
War das vielleicht wieder ein Trick von Mrs. Parker, ihren Sohn in die richtige Richtung zu schubsen? Zuzutrauen wäre es ihr.
May strich sich eine Haarsträhne hinter ihr Ohr. Sie wusste nicht, was sie ihm antworten sollte. Konnte sie hier, mitten in der vollen Mensa, offen mit ihm sprechen?
"Sie hat von deinem Dad erzählt. Dass er ... dass ... dass ihr letztes Jahr eine schwere Zeit hattet", vorsichtig beobachte sie Chris bei jedem Wort, das sie sagte.
Als sie ihren Satz beendet hatte, schaute Chris sie zum ersten Mal, seit er zu ihr an den Tisch gekommen war, an. Sein Blick war leer und starr. May schluckte schwer.
"Hat sie sonst noch etwas zu ihm gesagt?", die Frage sollte betont beiläufig klingen, aber die weiß hervortretenden Knöchel seiner Hand, die fest die Gabel umklammerte, verrieten seine Anspannung.
May runzelte die Stirn.
"Nein, hat sie nicht."Obwohl es ihr auf der Zunge lag, fragte sie nicht nach, was es sonst noch zu erzählen gegeben hätte. Sie wollte ihn nicht in Bedrängnis bringen, jetzt, da er von sich aus zu ihr gekommen war.
Chris legte die Gabel auf sein Tablett. Sein Blick wurde sanft und traurig.
"Ich habe Mist gebaut, May. Richtigen Mist. Niemals hätte ich mit dir auf diese Weise umgehen dürfen. Du wolltest nur nett sein und ich habe dich behandelt wie den letzten Dreck", er stockte, um zu sehen, wie May reagierte.Sie presste ihre Lippen aufeinander und sah ihn aufmerksam an.
Chris fuhr sich durch sein lockiges Haar. Die Geste hatte etwas Verzweifeltes.
"Ich weiß nicht, wie ich das, was geschehen ist, wieder gutmachen kann. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, damit du mir vielleicht verzeihen kannst. Das einzige was ich kann, ist dir zu versichern, dass du nichts falsch gemacht hast. Es war alles allein meine Schuld. Ich war komplett überfordert mit der Situation. Mein Dad ... das mit meinem Dad ist alles nicht einfach. Das ist nichts, was ich hier mit dir besprechen könnte. Verdammt, ich weiß nicht mal, ob ich überhaupt darüber reden kann. Aber wenn es hilft, dass du mir vergeben kannst, dann will ich es versuchen", Chris schaute May flehentlich an."Hat dir deine Mum gesagt, dass du zu mir kommen und das sagen sollst?", May hatte ihre Hände ineinander verschränkt, um ihr Zittern zu verbergen.
"Nein. Ja. Also meine Mum hat mir schon seit dem Tag, als das alles passiert ist, gesagt, ich soll mit dir reden. Aber ich konnte nicht. Ich weiß, es war mies und hat alles nur noch schlimmer gemacht. Aber ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich fühle mich beschissen. Ich bin so nicht. Ich nehme Rücksicht auf andere und kann mich beherrschen. Aber als du bei mir vor der Tür standest und mein Dad mit dir geredet hat. Ich weiß nicht. Da war ich plötzlich nicht mehr ich selbst."
May betrachtete Chris eingehend. Sie glaubte ihm jedes Wort und sie fühlte seine Unsicherheit, seinen Selbsthass und seine Verzweiflung. All diese Gefühle hatte sie selbst durchlebt, als ihre Mum sie verlassen hatte.
Obwohl May immer noch tausend Fragen im Kopf herumschwirrten, konnte sie nicht anders, als ihre Hand auf die von Chris zu legen.
Überrascht blickte Chris auf ihre Hand und dann wieder in Mays Gesicht.
"Das Thema ist für mich noch nicht erledigt. Ich will wissen, warum es dich dermaßen stresst, wenn es um deinen Dad geht. Warum mein Erscheinen bei dir zuhause dich so unglaublich wütend gemacht hat. Immerhin hättest du auch freundlich die Hausaufgaben entgegennehmen können und ich wäre einfach wieder gegangen", während May redete, strich sie ihm beruhigend über seinen Handrücken.
"Es tut mir leid, May. Du hast mit allem recht. Und ich werde dir alles erzählen. Aber nicht hier und nicht heute", Chris schaute sie fragend an.
"In Ordnung", May lächelte ihn an.
"Ich verzeihe dir."Während Chris erleichtert ihre Hand drückte, hoffte sie inständig, dass sie nicht zu lange auf eine Erklärung würde warten müssen. Tief in ihr drinnen, war die Wunde, die Chris ihr mit seinem Verhalten zugefügt hatte, noch nicht verheilt.
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Believe in you (ONC 2024)
RomansaMays letztes Jahr an der High School steht an. Ein Jahr noch, bevor sie die Erwartungen ihres Vaters erfüllen und Jura studieren muss. Ein letztes Jahr, bevor sie die Stadt, mit der so viel Schmerz verbunden ist, verlassen kann. Doch dann muss May...