Schneefall - Sehnsucht | Band I

5 - Haben die einen Lehrgang veranstaltet?

Ohne ein weiteres Wort stürzte Haseljunges aus dem Ältestenbau und rannte über die Tallichtung. Wolken jagten über den Himmel, der Wind frischte auf und trug ihr den Blutgeruch entgegen. Der schwarze Leitwolf schleppte sich gerade den Hang hinauf, von Wunden übersäht, aber immerhin war er mit seinem Leben davongekommen, auch wenn es den Katzen, die Haferstern unten zurückhielt, offenbar nicht leicht gefallen war, ihn gehen zu lassen. 

Ein toter Wolf lagen herum, in der Nähe der Kinderstube. Vor dem Heilerbau scharten sich verletzte Katzen. Alle anderen Wölfe waren bereits verschwunden.

Haseljunges ließ ihren Blick oberflächlich über die verletzten Katzen schweifen, die nur widerwillig Platz machten. Keine von ihnen war so schlimm verletzt, dass Efeusturm sie Glanzrose hätte vorziehen müssen. Stolpernd erreichte sie schließlich den Eingang der Höhle und tauchte in die kühle Dunkelheit voller Gerüche und Ruhe ein.

"Haseljunges?" Wunschrose, die gerade vorbeieilte, blieb aprupt stehen. "Wo warst du denn nur die ganze Zeit? Ich habe mir furchtbare Sorgen gemacht!" Sie leckte Haseljunges über die Stirn. "Alles in Ordnung?"

"Ja, mir geht es gut!" Die junge Kätzin tauchte unter ihrer Mutter weg. Sie fühlte sich seltsam ruhig, obwohl noch immer der Geruch nach Blut in der Luft hing, wenn auch hier von Kräuterduft überdeckt. "Aber Glanzrose wurde...ganz schlimm verletzt. Ich soll Efeusturm holen."

"Was ist mit Glanzrose los?" fragte die schwarze Heilerin, die hinter Wunschrose auftauchte. Ihre Stimme klang durch die Kräuter in ihrem Maul ein wenig undeutlich.

"Ein Wolf hat...hat..." Haseljunges zitterte. Ihr Fell sträubte sich, als sie versuchte, die schrecklichen Bilder zu verdrängen, die über ihr hereinbrachen. Besorgt kauerte Efeusturm sich vor sie. "Was ist passiert, Kleine?" Sie drehte sich zu den Katzen weiter im Bau um. "Helljunges, kannst du mir ein bisschen Baldrian für deine Schwester bringen?"

Helljunges kam mit einem Blatt im Maul auf sie zu und gab es ihr zu essen. Haseljunges wurde ruhiger, während Wunschrose hinter ihr nervös den Boden mit ihren Pfoten knetete. "Efeusturm, Goldstreifs Junge!" erinnerte sie die Heilerin, die ihr beruhigend zunickte. "Einen Moment noch."

Goldstreifs Junge kommen ausgerechnet jetzt?  fragte sich Haseljunges erschrocken. Schnell beantwortete sie Efeusturms Frage, die noch immer in der Luft hing.

"Ein Wolf hat Glanzrose die Augen ausgekratzt. Kleintatze hat gesagt, ich soll dich holen."

Efeusturm sog scharf die Luft ein und erhob sich. Für einen Moment wirkte sie furchtbar müde und alt. "Wird Zeit, dass ich...Haseljunges, willst du mir helfen?"

"Gern!" Vor Freude machte Haseljunges einen kleinen Hüpfer.

"Gut. Dann erkläre deiner Schwester schnell, was passiert ist, und lass dir von ihr die Kräuter geben. Ich schaue nach Goldstreif, wir treffen uns dann bei Glanzrose. Verbummle dich nicht! Der Blutverlust ist gefährlich."

"Geht klar!" Haseljunges hopste in die Höhle hinein zu Helljunges, die gerade die Wunden von Abendröte mit einem Moospatt wusch. Neidisch sah sie einen Augenblick lang zu, dann erzählte sie ihrer Schwester, was passiert war, während Abendröte mit frisch behandelten Wunden aus dem Bau schlüpfte. Am Eingang sprach Efeusturm mit den wartenden Kriegern, bevor sie hinaushuschte. Wunschrose folgte ihr wie ein besorgter, grauer Schatten.

Helljunges sprang davon und kehrte wenig später mit einer maulvoll Kräutern zurück. Beesorgt musterte sie Haseljunges. "Geht es dir irklich gut? Das muss schlimm gewesen sein..."

"Klar geht es mir gut!" entgegnete Haseljunges eine Spur heftiger, als sie gewollt hatte. "Ich will Heilerschüler werden, als solche hält man das aus!" Schnell nahm sie die Kräuter entgegen, um nicht noch großspuriger zu klingen.

"Sag Efeusturm, dass es nur wenig Schöllkraut ist! Und die Himbeerblätter hat sie ja schon. Studentenblume habe ich auch mit dazugetan, damit sich nichts entzündet." richtete Helljunges ihr noch im davongehen aus.

Was haben die während der Schlacht denn gemacht? Einen Lehrgang? fragte sich Haseljunges eifersüchtig. Aber Efeusturm hat mich gebeten, ihr zu helfen! Und Helljunges muss nur Spinnweben auf die Kratzer machen. Das kann ja jedes Junges! tröstete sie sich, als sie an Frostpfote, der an Aalschweifs Nest stand, vorbeischlüpfte. 

Draußen auf der Lichtung war es ruhiger geworden. Amselflug, Wolfsmond und Grauteich hievten den toten Wolf den Abhang hinauf, um ihn außerhalb des Lagers zu vergraben. Ihnen folgten Fliederpfote und Rosenpfote, die beide so gut wie keine Verletzung davongetragen hatten. 

Haseljunges überquerte die Lichtung und trat dann in den Ältestenbau ein, wo sie bereits von Efeusturm erwartet wurde. Die schwarze Kätzin war damit beschäftigt, Glanzroses Atmung zu kontrollieren. Wie eine Statue stand Wieselpfote danneben, den Blick auf das Fell seiner Mutter gerichtet, aber er schien ganz weit weg zu sein. Haseljunges stupste ihn an, aber er reagierte nicht, also schob sie ihn ein wenig zur Seite, um Efeusturm die Kräuter zu geben.

"Ich soll dir von Helljunges ausrichten, dass..." Fieberhaft suchte sie nach Helljunges' Anmerkungen, "dass  es nur wenig Schöllkraut ist und du die Himbeerblätter ja schon hast. Und die Studentenblume, weil...damit es sich entzündet? Nein, Blödsinn. Es soll sich ja nicht entzünden-"

"Schon gut." Efeusturm schnurrte belustigt. "Du hast dir Mühe gegeben. Schaust du bitte nach Goldstreif? Wunschrose ist bei ihr. Ich würde dir nur gern den Anblick ersparen...du weißt schon." Sie wies auf Glanzroses Geicht, das mittlerweile, von Blut gesäubert, noch schrecklicher wirkte. Haseljunges wandte eilig den Blick ab. Eigentlich wollte sie protestieren, aber dann blieb ihr nichts anderes übrig. "Mach ich."

"Nimmst du bitte Wieselpfote mit? Er braucht Ablenkung." Efeusturm stupste den schwarzweißen Kater an, der endlich aus seiner Erstarrung erwachte und Haseljunges widerspruchslos folgte.

"Er soll heute abend in meinem Bau vorbeikommen, dann gebe ich ihm ein wenig Geißfuß und vielleicht ein paar Mohnsamen!" rief Efeusturm ihnen hinterher.