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Soleils Perspektive

Dienstag
19:21

Die letzten Tage waren ein einziger Albtraum. Die Erinnerung an den Kuss mit Jamal und die darauffolgende Auseinandersetzung ließen mich nicht los. Seine Berührung hatte mich einerseits angewidert, andererseits verwirrt, weil ein Teil von mir ihm fast hatte vertrauen wollen. Aber jetzt war ich sicher, dass er genauso war wie alle anderen Männer, die mich bisher enttäuscht hatten.

Heute war Nour bei mir. Sie war die einzige Person, die mir in dieser verdammten Stadt ein bisschen Trost gab. Doch selbst bei ihr fühlte ich mich manchmal distanziert und entfremdet. Wir saßen in meinem kleinen, chaotischen Wohnzimmer, als sie plötzlich begann, von einem Jungen zu erzählen, den sie kennengelernt hatte. Ihre Augen leuchteten, und sie erzählte mit solcher Begeisterung, dass es mir fast leid tat, dass ich gar nicht bei der Sache war.

"Soleil, hörst du mir überhaupt zu?" fragte sie und sah mich mit leichtem Ärger an.

Ich zwang mich, ein Lächeln aufzusetzen.

"Ja, klar. Erzähl weiter."

Sie seufzte und rollte mit den Augen.

"Du bist total abwesend. Komm schon, komm mit mir und ihm raus, damit du dich auch ein bisschen ablenken kannst. Das wird dir gut tun."
"Ich weiß nicht, Nour..." begann ich, aber sie ließ mich gar nicht ausreden.
"Bitte, Soleil. Es wird dir gut tun, rauszukommen. Und vielleicht ist er ja nett, wer weiß?" Sie grinste und schob mich sanft in Richtung meines Kleiderschranks.

Ich hatte wirklich keine Lust, aber Nours Entschlossenheit war überwältigend. Schließlich gab ich nach und ließ mich von ihr überreden. Während ich mich anzog, kreisten meine Gedanken wieder um Jamal. Warum hatte er mich geküsst? War es alles nur ein Spiel für ihn gewesen? Ich hasste mich dafür, dass ich auch nur einen Moment lang gedacht hatte, er könnte anders sein.

Als wir schließlich vor die Tür traten, wartete bereits ein Auto auf uns. Es kam mir irgendwie bekannt vor, aber ich konnte es nicht einordnen. Nour öffnete die Beifahrertür und setzte sich mit einem fröhlichen Begrüßung. Ich ging um das Auto herum und stieg auf den Rücksitz ein.

In dem Moment, als ich meinen Blick hob und den Fahrer ansah, gefror mir das Blut in den Adern. Es war Jamal.

Er wirkte genauso überrascht wie ich, aber er verbarg es gut. Nour drehte sich zu mir um und stellte uns vor, als ob wir uns nicht schon längst kannten.

"Soleil, das ist Jamal. Jamal, das ist meine beste Freundin Soleil."
"Freut mich", sagte ich tonlos und zwang mich zu einem Lächeln.
"Freut mich auch", erwiderte Jamal mit einem Nicken.

Doch seine Augen verrieten eine Mischung aus Überraschung und Unbehagen. Die Autofahrt war eine einzige Qual. Nour plapperte fröhlich vor sich hin, während ich stumm auf den Rücksitz starrte und versuchte, meine Gedanken zu ordnen. Warum war Jamal mit Nour unterwegs? War das alles Teil eines größeren Plans, um an Ali heranzukommen? Und wenn ja, was sollte das mit dem Kuss?

"...und dann dachte ich mir, warum nicht?" erzählte Nour gerade begeistert, aber ich hatte den Faden verloren. Ich nickte nur mechanisch.

Jamal warf mir im Rückspiegel hin und wieder Blicke zu, die ich nicht deuten konnte. Was dachte er? War er genauso verwirrt wie ich? Oder war das alles nur ein weiteres Spiel für ihn?

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