Die erste Sitzung

49 3 0
                                    

Paddy

Direkt am nächsten Morgen schrieb Phil Paddy eine WhatsApp. Tatsächlich schickte er die Telefonnummern von zwei Psychologen, und Paddy war erleichtert, dass beide Praxen in Deggendorf waren. Dennoch dauerte es zwei Tage, bis Paddy sich dazu aufraffen konnte, einen Arzt anzurufen. Wobei nicht das Problem war, dass er sich selbst dazu entschieden hatte, diesen Schritt nun auch wirklich zu gehen, sondern eher, dass er auch nach zwei Jahren Abgeschiedenheit ungern offizielle Telefonate führte. Er musste sich vorstellen, und allein dabei konnte er die überraschten Blicke quasi schon sehen. Aber die Arzthelferin am Telefon war sehr nett, auch wenn sie kurz stockte, als er seinen Namen nannte. Natürlich überhörte er das meistens, aber wie alles gerade machte auch das im Augenblick etwas aus. Er war erstaunt, dass er schon ein paar Tage später einen Termin bekam, aber die Arzthelferin versicherte ihm, dass sie bei akuten Problemen Ausnahmen machen konnte – nicht nur bei prominenten Patienten.

Nachmittags rief er bei Wincent an und sie verabredeten, dass sie in zwei Wochen, an Ostern nach Berlin fahren würden. Erst am späten Nachmittag kam Jamila von Sophia zurück, Mark hatte sich ins Musikzimmer zurück gezogen, und auch Paddy saß mit der Gitarre auf dem Sofa. Zwar wollte nichts konkretes dabei herumkommen, aber er versuchte, sich nicht daran zu stören. Was natürlich nicht funktionierte, und irgendwann packte er die Gitarre wieder weg. Als Jamila am frühen Abend noch mit ihren Hausaufgaben und sie selbst mit Kochen beschäftigt waren, erzählte er Mark von dem Termin.
»Das ist doch super, bin echt stolz, dass du das schon erledigt hast«, meinte Mark.
Paddy fuhr sich durch die Haare. »Ja, naja, wenn ich schon gesagt hab, dass ich es allein nicht packe«, sagte er. »Mal sehen, ob es passt.«
»Wäre doch gut«, antwortete Mark. »Ich hab auch heute mit meiner Managerin gesprochen und Interviewtermine und alles für die nächsten drei Wochen abgesagt. Das heißt, ich bin noch fast einen Monat lang hier, und wenn’s sein muss, mach ich die Tourproben auch von hier aus, okay?«
»Das musst du nicht, Mark«, widersprach Paddy prompt. »Ich will nicht, dass du alles wegen mir absagst.«
»Zu spät«, grinste Mark. »Also, ich werd natürlich nicht alles absagen, gell, n Großteil kann ich aber einfach auch von hier aus machen. Alles gut, schaffen wir doch.«
Paddy nickte langsam und ließ sich in eine Umarmung und einen Kuss ziehen. Er brauchte diese Zuversicht, die Mark ausstrahlte, so sehr, und trotzdem wollte er natürlich nicht, dass Mark wegen ihm Zuhause blieb. Er musste das auch allein schaffen.

»Soll’n wir noch n Filmchen schauen?«, fragte Mark, nachdem Jamila geholfen hatte den Tisch abzuräumen. »Oder ne Serie? Wir könnten doch Dance Academy weiter schauen.«
»Au ja«, nickte Jamila. »Ist das okay, Papa Paddy?«
»Of course«, erwiderte Paddy. Seit wann war er in Jamilas Augen der strengere von ihnen beiden geworden? Er fing einen Blick von Mark auf und atmete tief durch.  »Aber ich… wollte noch etwas mit euch besprechen.«
Sie setzten sich auf das Sofa im Wohnzimmer, Jamila in ihre Mitte. »Ich… hab eine Überraschung für dich, Love«, meinte er. »Ich hab mit Onkel Wincent telefoniert. Wir fahren in zwei Wochen an Ostern nach Berlin. Sicher können wir dann auch Yvonne, Oliver und Charlie besuchen, wenn wir schon mal da sind.«
»Oh ja«, freute sich Jamila und warf ihre Arme um Paddys Hals. »Das wird toll!«

Paddy schmunzelte und fühlte Wärme seine Brust durchziehen. Er zog Jamila kurz an sich, dann schaute er wieder zu Mark, der ebenfalls lächelte. »Aber bis dahin muss ich… naja, ich werde zu einem Arzt gehen«, begann er ernst.
Jamila schaute ihn fragend an. »Weil’s dir immer noch nicht gut geht?«
»Nein, nicht wirklich«, seufzte Paddy. »You know, das ist nicht so leicht zu erklären. Das ist wie, wenn du zu einfach gar nichts Lust hast. Aber nicht nur ab und zu, sondern einfach immer. Nicht mit Sophia etwas unternehmen, oder Musik zu machen oder mit Ruby zu spielen. Wenn du einfach nur den ganzen Tag im Bett bleiben willst, weil du nur noch müde und traurig bist. Aber gleichzeitig hast du ein furchtbar schlechtes Gewissen. Weißt du noch, als deine Mama gestorben war? Da warst du auch sehr lange traurig.«
Jamila nickte bedrückt. »Ja, und ich dachte, ich kann nie mehr lachen, weil Mama im Himmel auch nicht mehr lachen kann. Ist das wegen Tante Barby?«
»Ja, ein bisschen«, nickte Paddy. »Aber ich verspreche dir, dass es bald wieder besser wird, ich tu alles dafür, dass wir wieder etwas unternehmen können, okay?«

»Hab dich lieb, Papa Paddy«, sagte Jamila ohne Umschweife und schmiegte sich an Paddys Seite. Ein riesen Stein fiel Paddy vom Herzen. Vielleicht hatte er sich in seinen Zweifeln auch alles schlimmer eingeredet als es war. Natürlich hatten sie sich in den zwei Jahren, die Jamila jetzt bei ihnen war, schon Streit gehabt, Tränen waren geflossen. Aber immer hatten sie das hinbekommen.
»Bin echt stolz auf dich, Schatz«, sagte Mark, als sie später im Bett lagen. »Haste doch toll gemacht eben mit Jamila.«
»Ich hoffe«, seufzte Paddy müde. Dieser Tag hatte wieder Reserven gekostet, auch wenn er nicht erklären konnte, was so kräftezehrend gewesen war. »How’s it with your song?«
Mark legte den Kopf schief. »Kein Plan. Find’s eigentlich gut, ist ein Gegensatz zu den anderen Songs, aber irgendwie passt es nicht.«
»Was passt denn nicht?«, fragte Paddy.
»Keine Ahnung, der Rhythmus des Refrains, oder der Text... ich hab’s einfach noch nicht«, zuckte Mark die Schultern. »Kannst es dir ja mal später anhören, wenn de willst.«
»Mach ich«, erwiderte Paddy, schon mit geschlossenen Augen an Marks Seite liegend.

Die erste Therapiesitzung war nervenzehrend, aber Paddy fühlte sich ganz wohl bei dem Therapeuten. Natürlich fing er mehrere erstaunte Blicke der Arzthelferinnen auf, aber er war dankbar und erleichtert, dass sich der Therapeut nichts anmerken ließ. Aber sicherlich hatte er den prominenten Namen im Terminkalender gesehen und sich darauf vorbereiten können. Als Paddy drei Stunden später nach Hause kam, war er froh, dass er vor der Sitzung einkaufen gewesen war. Jetzt hätte er das bestimmt nicht mehr gepackt, zu sehr waren seine Gedanken noch bei der Sitzung. Jamila war noch in der Schule, er hörte Marks Stimme aus dem Musikzimmer und schlenderte hinüber. Er brauchte Ablenkung, auch wenn er selbst nicht singen wollte. Er wollte nur bei dem Mann sein, den er über alles liebte. Leise öffnete er die Tür zum Musikzimmer. Mark saß am Klavier,  spielte eine Melodie und sang dazu. Nitti war über Facetime dazu geschaltet. »Keep going, ich mag’s.«, meinte Paddy,  gab ihm aus dem Back einen Kuss auf die Stirn und winkte Nitti.»Sehr. Bin in der Küche, ich brauch nen Kaffee.«

Er hing mit seinen Gedanken immer noch bei der Sitzung, als Mark eine Weile später ebenfalls in die Küche kam und eine Tasse in den Kaffeeautomat schob.
Mark umfasste seine Oberarme, fuhr sanft darüber und beugte sich vor für einen Kuss. »Versuch halt n bisschen darüber, wie’s mir damit geht, ne«, sagte er. »Ich versuch dich zu verstehen, aber… manchmal check ich’s einfach nicht.«
»Und das ist auch okay«, erwiderte Paddy. »I‘m glad you’re not in that situation. I would never wish for you to have it. You are just so positive, and I admire that. And... I need that so much.«
»Kannst mich immer gerne anzapfen, wenn du’s brauchst«, schmunzelte Mark. »Wie war’s jetzt eigentlich?«
»Sehr anstrengend«, gab Paddy zu. »Ich muss mich echt lernen zu öffnen. Das wird noch dauern, glaub ich. Aber… es war gut, denke ich.« Er erzählte ein wenig, während sie ihren Kaffee tranken.

»Find ich gut, dass du da bleiben willst«, meinte Mark. »Nich weil’s direkt hier ist, sondern einfach so. Musst dich ja schon auch wohlfühlen da.«
»Tu ich schon«, nickte Paddy. »Irgendwie. Fühlt sich einfach gut an, kann’s nicht so richtig erklären.«
»Und auch gut, dass er die Depression gleich diagnostiziert hat«, fuhr Mark fort. »Also, krass natürlich, aber hattste ja selbst schon befürchtet.«
Paddy atmete tief durch. »Yeah. He said for now I should do things that do me good. Zum entspannen und gut fühlen. Noch mehr Stress vermeiden. Wird sicherlich die nächsten Male tiefer gehen.«
»Hmm«, schmunzelte Mark und zog Paddy an sich. »Für’s entspannen kann ich sorgen.«
Paddy ließ sich in einen tiefen Kuss ziehen, aber so wirklich abschalten konnte er auch nicht, als Marks Hand in seinen Nacken glitt. Mark drückte Paddy ein wenig gegen die Anrichte und entlockte ihm einen leisen Seufzer, aber da legte Paddy eine Hand auf Marks freie, die an seinen Hüften ruhte. »My Love… sorry, I can’t…«, seufzte er und zog sich ein wenig zurück.
»Alles gut«, ließ Mark seine Lippen über Paddys streicheln. »Du sollst machen, was dich entspannt.«
Paddy fuhr sich durch die Haare. »Yeah, but…« Zwar war er eigentlich auch wirklich erschöpft und müde, aber trotzdem gaben seine Gedanken keine Ruhe.
Mark rieb sanft über seine Arme. »Solln wa nich ne schöne große Runde mit Ruby machen?«, schlug Mark vor. »Ich weiß, bist platt, aber hier magst ja offenbar gerad auch nich wirklich sein, also… soll’n wa vielleicht n Picknick machen? Nur wir drei? Dann kommst n bisschen raus, aber eben… nich überfordert, hoffentlich.«
Paddy schaute ihn überrascht an und nickte dann. »Und du sagst, du verstehst mich nicht. You understand so much, my Love.«
»Bin ja froh, wenn’s doch so ist«, meinte Mark, sichtlich erleichtert. »Aber hiermit kommste mir nich davon.«
Erneut küsste er Paddy tief, worüber Paddy tatsächlich lachen musste. »What if I don’t want to?«, gab er zurück, ließ sich nochmal küssen und seufzte dann doch, als Mark von ihm abließ.
»Eh eh«, lachte Mark. »Dein Wunsch. Selbst schuld. Erst Hund, dann Liebe.«
»Du bist so blöd«, klopfte Paddy Mark prustend in die Seite.

Tatsächlich tat ihm die Hunderunde gut. Sie hatten Kuchen mitgenommen, den Paddy beim Bäcker, den sie seit sie hier lebten kannten und der sehr verschwiegen war, und Thermoskannen mit Tee und Kaffee. Nach einer Weile Marsch rasteten sie in einer Picknickinsel, die es hier in den Wäldern zuhauf gab. Abends griff Paddy tatsächlich zur Gitarre, als sie nach dem Essen im Wohnzimmer waren. Sie sangen, was ihnen in den Sinn kam, und Jamila stimmte in die Songs, die sie kannte, ein. Natürlich stimmte Paddy auch Wir sind groß an, bevor sie darum bitten konnte. Er merkte bald, dass der Tag doch sehr geschlaucht hatte, war aber trotzdem stolz auf sich, dass er nach der Sitzung auf den Rat des Therapeuten gehört und versucht hatte, dagegen anzukämpfen, nicht direkt wieder in seinen Grübeleien zu versinken.  Das aber hatte ihn tatsächlich noch mehr geschafft als die Therapiestunde an sich, und er sank bald todmüde ins Bett, bekam nur noch mit, wie Mark ein leises »Dann eben morgen« in sein Ohr schmunzelte, einen Kuss folgen ließ und der Schlaf ihn einholte.

A Thousand DoubtsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt