Nach Berlin

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Paddy

»Out of the dark into the light, into a new horizon, on your way to the other side, a midnight sun is rising and now you’re para-paragliding, gliding, oh what a sky to dive in…«
Paddy zuckte in seinem Klavierspiel zusammen, als er wie aus der Ferne eine Hand auf der Schulter spürte. »Paddychen, willste nich mal Pause machen? Bist jetzt schon wieder zwei Stunden an dem Song dran.«
Marks Stimme klang besorgt und Paddy lehnte sich zurück. »Yeah, but I’m done now. It’s complete.«
»Ehrlich?«, fragte Mark überrascht und zog sich einen Hocker ans Klavier. »Hätt ich nicht gedacht, dass du den Song fertig schreiben kannst.«
»Me neighter«, erwiderte Paddy und holte tief Luft. »Wanna hear?«
»Muss nich«, meinte Mark mit verständnisvoller Stimme. »Nur, wenn’s für dich okay is.«
Paddy nickte nur. Er wusste selbst nicht richtig warum, aber er hatte das drängende Gefühl gehabt, diesen Song fertig schreiben zu müssen. Es war ein inneres Bedürfnis gewesen, so als müsse er es einfach abschließen. Er begann wieder zu spielen und zu singen, musste ab und zu beinahe abbrechen, und seine Stimme versagte bei einigen Tönen. Aber er wollte Mark den fertigen Song zeigen. Er schloss kurz die Augen, als er geendet hatte, und atmete tief durch.
»Wow«, sagte Mark und deutete auf seine Arme. »Guck, ich hab Gänsehaut. Heftiger Text, aber so, so schön.«
»Ich weiß, aber ich musste es einfach fertig schreiben«, sagte Paddy. Er fühlte, wie er wieder in sich zusammen zu sinken drohte und straffte die Schultern. Er wollte das nicht mehr.

»Ist’s denn besser jetzt?«, fragte Mark sanft
Paddy klappte die Tastaturklappe zu und schaltete das Aufnahmegerät aus. »Ich glaub ja. Es fühlt sich… erleichternd an. You know, as if there was this burden on my shoulder, something that told me to get it done.«
»Ist jedenfalls unfassbar schön«, meinte Mark. »Also, schön halt… weißt schon. Blödes Wort da irgendwie in dem Zusammenhang, aber ich mag es sehr.«
Paddy kam nicht umhin zu schmunzeln. »Ich weiß doch, was du meinst, my love. Coffee?«
»Ja«, nickte Mark. Jamila war an diesem Nachmittag, ein paar Tage nach Paddys erster Therapiestunde, bei Sophia, und sie genossen den warmen Mainachmittag auf der Terrasse, während Ruby im Garten herumtrottete. Paddy spürte die Frühlingssonne auf seiner Haut und ja, es war ein angenehmes Gefühl. Vielleicht hatte er wirklich eine Weile gebraucht, um nach der intensiven Zeit in Südafrika mit allem hier klarzukommen. »Wir müssen in Berlin noch n Hotel mieten«, erinnerte Mark Paddy dann. »Ich will Alvaro und Wince ungern ne Woche lang auf der Tasche liegen.«

»Jamila wird bis zu ihrem Geburtstag nicht mehr mit uns reden, wenn wir nicht bei den beiden übernachten«, warnte Paddy. »Willst du das riskieren?«
»Auch wieder wahr«, grinste Mark. »Dann schreib ich dem Alvaro mal, ob wir da bleiben können.«
Alvaro schrieb sofort zurück und Paddy war ein wenig erleichtert, dass es für ihn selbstverständlich war, sie bei sich übernachten zu lassen. Diese Diskussion mit Jamila wollte er sich ersparen.
»Wann haste eigentlich deine nächste Therapiestunde?«, fragte Mark.
»In drei Wochen«, antwortete Paddy. »Wenn wir dann aus Berlin zurück sind.«
»Okay, passt ja gut«, meinte Mark. »Ich hab übrigens der Kaddafeld geschrieben, sie freut sich auch auf uns.«
»Ich mich auch«, nickte Paddy. »Really, also, ich freu mich echt.« Auch, wenn es viel Stress bedeutete, die Vorfreude war tatsächlich da. Aber trotzdem zweifelte Paddy, ob er die Zeit so genießen konnte wie er es sich wünschte. Wahrscheinlich dachte er aber wieder nur zu viel darüber nach.

»Wir bekommen das schon hin, Schatz«, sagte Mark und griff über den Tisch nach Paddys Hand. Offenbar bemerkte er die Zweifel, die Paddy schon wieder zu übermannen drohten. »Und wenn de Zeit für dich brauchst, nimmste’s dir. Der Wince kennt das doch auch zur Genüge.«
»I know«, seufzte Paddy und rieb sich mit der freien Hand über die Schläfen. »I just don’t want to destroy the mood with my doubts and everythin’.«
»Und wenn’s so ist, isses auch okay«, meinte Mark. »Ist doch selbstverständlich, auch für die beiden.«
Paddy holte tief Luft. »Thank you, my love«, sagte er. »Du weißt, dass ich wahrscheinlich nicht fahren würde, wenn du es nicht pushen würdest.«
»Ich weiß«, schmunzelte Mark. »Du würdest dich viel lieber hier eingraben. Aber wirst sehen, es wird cool. Wir waren zwar gerade erst in Südafrika, aber das wird gut. Vor allem für dich.«
Paddy nickte. »Wenn du das sagst. Ich bin einfach… wahrscheinlich gerade keine gute Gesellschaft. Mir fällt ja auch hier manchmal die Decke auf den Kopf, aber dann wieder… I just don’t know..«
»Das weißte wahrscheinlich sowieso erst, wenn wir da sind, denk ich«, erwiderte Mark. »Du sollst doch machen, was dir guttut.«
»Wenn das so leicht wär«, seufzte Paddy. »Manchmal weiß ich das ja selbst nicht mal.«
»Machst dir wieder zu viele Gedanken, Schatz«, meinte Mark sanft. »Wir schaffen das. Ich bin auch noch da.«
»Ohne dich wäre ich verloren«, sagte Paddy, und es war ja nur die Wahrheit. Mark verstand viel mehr als er dachte, er war für ihn da und allmählich freute sich Paddy doch sehr auf die paar Tage und darauf, ihre Freunde wiederzusehen.

Jamila war selbstverständlich in den Tagen vor ihrem Kurztrip nach Berlin sehr aufgeregt. Sie beschlossen zu fahren und trotzdem für ein Aufforstungsprojekt, für das Paddy sich engagierte, wieder einen Baum zu pflanzen. Paddy war es wichtig, Jamila von Anfang an in diese Entscheidungen einzubinden und ihr zu erklären, warum sie das taten. Dass sie auf die Umwelt, in der sie lebten, achten mussten, wo es ihnen möglich war. Und dass sie dieser Verantwortung auch gerechter werden mussten als andere, weil sie die Möglichkeiten dazu hatten. Sie hatten inzwischen ein Elektroauto und Paddy war dankbar, dass Mark auch in dieser Hinsicht mit an einem Strang zog. Er versuchte, nicht darüber nachzudenken, ob diese Kurzreise jetzt gut für ihn war. Er konnte es nicht sagen, musste es wohl herausfinden. Aber genau diese Ungewissheit killte ihn, und er fragte sich, seit wann das so war. Früher waren sie doch ständig spontan unterwegs gewesen, aber im Augenblick fühlte es sich an wie eine riesen Unternehmung. Natürlich half er Mark beim Kofferpacken, sie besorgten noch kleine Ostergeschenke. Paddy schrieb Wincent, dass er an Karfreitag und Ostersonntag auf jeden Fall in die Kirche gehen würde, und Wincent antwortete, dass das gar kein Problem war. Schließlich war Ostern das wichtigste Glaubensfest neben Weihnachten. Ruby ließen sie bei Anne und Philipp.

Sie fuhren am Gründonnerstag nach Berlin, Jamila hibbelte schon auf dem Rücksitz herum, als sie die letzten Meter zu Wincents und Alvaros Wohnung fuhren. Sie hatte schon während der langen Fahrt ein paar Mal gefragt, wann sie endlich da waren, aber Mark und Paddy hatten sie gut beschäftigt bekommen. Paddy fragte sich, wann ihre Freunde sich ein Haus oder eine größere Wohnung kaufen würden. Bislang schienen sie sich hier in der Stadt sehr wohl zu fühlen. Paddy wusste, dass für Wincent aber ohnehin viel wichtiger war, dass Alvaro und er zusammen waren.
»Onkel Alvaro, Onkel Wince!«, rief Jamila, als sie das Auto in der Tiefgarage parkten, und rannte zum Aufzug.
»Jamila, du kannst schon deinen Koffer mitnehmen«, mahnte Paddy und grinste, als Mark ihm eine Hand auf den Arm legte. Jetzt war es wohl offiziell, dass er gerade der Strengere von ihnen war.
Die Wohnungstür im achten Stock stand schon offen, Jamila stürmte hinein und stellte gerade noch ihren Koffer ab, bevor sie ihre Arme um Wincents Mitte warf. »Ich hab euch so vermisst«, brach es aufgeregt aus ihr heraus, sie ließ von Wince ab und umarmte auch Alvaro, der sofort dazu kam.
»Wir dich auch, Süße«, beteuerte Wincent und begrüßte Paddy und Mark. »So cool, dass ihr Mal wieder da seid, wir freuen uns richtig.«
»Wir auch«, schmunzelte Paddy und umarmte beide. »It’s so good to see you guys.«
Alvaro hatte Kaffee und Kuchen auf der großen Dachterrasse, die zu ihrer Wohnung gehörte, aufgetischt und Jamila ließ es sich nicht nehmen, ganz nah neben Wincent zu sitzen. Sie freute sich so sehr, die beiden wieder zu sehen, dass er jetzt einfach nicht den Spielverderber geben wollte. »Was machen wir heute noch?«, fragte sie voller Tatendrang.
Alvaro lachte. »Wir können ein bisschen rausgehen und wir zeigen euch das Viertel hier. Wince leiht dir bestimmt sein Skateboard.«
»Au ja, ich hab in der Schule auch schon Skateboard fahren geübt«, verkündete Jamila und schlug sich im selben Moment die Hand vor den Mund. »Ups.«

»Du hast was?«, schoss Paddys Kopf augenblicklich herum. Er war schon in Südafrika strikt dagegen gewesen, dass Wince ihre Tochter auf seinem Skateboard fahren ließ. Es war einfach viel zu gefährlich, er wollte nicht, dass sie solche Sachen machte.
»Alle Jungs machen das«, wehrte sich Jamila. »Und Yannik hat gefragt, ob wir auch wollen. Sophia und Hannah haben auch mitgemacht.«
»Und du wolltest nicht die einzige sein, die nicht mitmacht, stimmt’s?«, machte  Wincent die Situation für Paddy deutlich. »Jaaa«, sagte Jamila entschuldigend. »Tut mir leid, Papa Paddy. Wir waren auch nur auf der Bahn da.«
»Der Halfpipe«, half Wincent ihr.
»Du weißt aber trotzdem, dass man nicht einfach macht, was alle anderen auch machen, oder?«, musste Paddy einfach mahnen.
»Jaah«, sagte Jamila. »Alles mach ich ja auch nicht mit.«
»Komm schon, Paddy, das war bloß Skateboard fahren«, schmunzelte Mark.
»It’s okay.« Paddy hob abwehrend die Hände. »Dann kannst du uns ja zeigen, was du jetzt gelernt hast.«
»Ja!«, sagte Jamila und sprang von der Terrassenbank auf. Mark lächelte und nickte zufrieden. Bevor sie gingen, wandte er sich an Paddy. »Musst nicht mit, wenn’s too much ist.«
Alvaro fing Marks Satz wohl auf, denn er schaute kurz zu ihnen, bevor er sich abwandte. »Nein, ist okay«, sagte Paddy. »Ich brauch n bisschen Luft.«
Natürlich kannten sie das Viertel schon, in dem Wince und Alvaro wohnten, sie besuchten sich ja nicht zum ersten Mal. Paddy hielt sich ein wenig aus den Gesprächen heraus, auch als sie abends im Wohnzimmer saßen und sich unterhielten. Er war jetzt wirklich müde und erschöpft, sein Kopf trotzdem voller Gedanken. Dabei wusste er doch gar nicht, warum er ausgerechnet hier jetzt wieder so viel nachdachte. Aber das Gespräch mit Jamila ging ihm nicht aus dem Kopf, dass sie so unbedingt dazugehören wollte. Was in ihrem Alter sicherlich nur normal war, aber manchmal fühlte er sich damit immer noch einfach überfordert. Er kannte das einfach nicht, sie hatten schließlich als Kids einfach nirgendwo dazugehören wollen. Sie waren sich genug gewesen, aber das ging bei Jamila natürlich nicht.

»Alles okay, Schatz?«, fragte Mark, als sie im Gästezimmer im Bett lagen. Jamila schlief schon in einem kleineren Kinderbett.
»Ja, ich… I’m just thinking because of what Jamila said«, seufzte Paddy. »Why she wants to belong so much. That’s something I just don‘t understand, you know. Wir hatten immer nur uns, da mussten wir nicht irgendwo dazugehören. Und wenn wir mal andere Freunde hatten, dann fanden die uns meistens ja gerade wegen unserer besonderen Art cool und wollten so wie wir sein, nicht anderes herum…«
»Naja, kann se schon versteh’n, weißte«, meinte Mark. »Kinder werden eh schnell von anderen gehänselt, gerade sie mit ihrem Hintergrund. Wurd se ja auch schon am Anfang, ne. Sie macht das schon gut, sich nicht selbst noch auszugrenzen.«
Paddy nickte müde. »I know you’re right, as always«, gab er zu. »I’m just not… the right person to talk about that.«
»Ach, Paddychen, se liebt dich doch abgöttisch«, meinte Mark und zog ihn an sich. »Du kannst ihr eben bei anderen Sachen helfen. Is doch auch nur normal.«
»Wahrscheinlich«, nickte Paddy. »All these doubts, I just hate it.«
»Wird schon werden, hm?« Mark zog ihn zu sich und gab ihm einen Kuss auf die Schläfe. »Kannst ja vielleicht doch mal mitm Wince drüber reden, wenn de willst.«
»Vielleicht.« Paddy schloss die Augen und versuchte, seinen Kopf auszuschalten und sich auf Ostern zu freuen, darauf, Yvonne zu besuchen und sicher auch Lena und Nitti, wenn sie schon einmal hier waren.
Aber so leicht war das leider nicht.

A Thousand DoubtsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt