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Ruby

Mit meinen ausgeliehenen Büchern stand ich vor der Bibliothek. Es war mit Sicherheit schon nach 5 uhr, denn die Sonne verschwand allmählich hinter dem Kirchturm. Dummerweise hatte ich vergessen einen Beutel oder wenigstens eine Tüte mitzunehmen, weswegen ich die Bücher nun eng an mich gepresst mit mir herum schleppen durfte. Es waren nicht viele, doch genug, dass ich schon nach wenigen Schritten umpacken musste, damit sie mir nicht runter fielen. Doch nicht nur meine Bücher, sondern auch meine gute Laune waren schwierig fest zu halten. Die Sonne hatte sich hinter den Wolken versteckt, und egal wo man hinschaute, man sah immer mindestens ein zuckersüßes Pärchen auf dem Weihnachtsmarkt herum küssen. Normalerweise fand ich das auch immer total süß, doch heute war ich einfach nicht dazu in der Stimmung. Im Gegenteil! Ich erwischte mich manchmal sogar dabei, wie ich sie böse anstarrte. Der einzige Grund war, dass ich selber auch gerne einen Freund hätte. Aber mal ehrlich, welches Mädchen wünscht sich nicht zur Weihnachtszeit, einen Freund zu haben? Und die Mädchen, die schon einen Typen an der Seite haben, zählen nicht! Und ja, natürlich schaute ich mich- wie jedes andere Mädchen auch- hier nach attraktiven Jungen in meinem Alter um. Die Atmosphäre auf einem Weihnachtsmark ist aber auch schon immer etwas besonderes gewesen. Man konnte die Romantik der Weihnachtszeit quasi mit
Händen greifen. Nur mit Mühe und Not konnte ich den Blick von den von mir ernannten knutsch- Promenaden abwenden, und mich stattdessen wieder auf meine Bücher konzentrieren, denn das oberste lag besonders gefährlich auf dem Bücherturm. Nur indem ich mich etwas nach links lehnte konnte ich das Fallen verhindern. Wenn ich könnte, würde ich natürlich das Buch einfach wieder normal richten, doch leider hatte ich im Moment keine Hand frei. Gerade als sich das Buch dafür entschieden hatte, seinen rechten Platz wieder einzunehmen, und ein kleines Stückchen nach links rutschte, passierte es. Etwas striff meine Schulter, und ich geriet ins Wanken. Ich taumelte ein paar Schritte rückwärts, und konnte mich im letztem Moment noch an einem Laternenpfahl festhalten. Meine Bücher sah ich nur noch durch die Luft fliegen, bevor sie auf dem gepflastertem Boden aufschlugen. Leere und beschriebene Notizzettel wirbelten aus meinen Schulbüchern, Seiten zerknickten, und mein Tagebuch blieb umgedreht auf dem Boden liegen. Keiner wusste bis jetzt, dass ich ein Tagebuch schrieb, ich selber fand es einfach nur kitschig, weshalb ich es auch nicht an die große Glocke hängen wollte. Doch es hat mir echt geholfen. Ich bekam mein Leben seit dem besser in den Griff, ich verpasste keine Termine mehr, und ich war auch nicht mehr so verpeilt.
Schnell kniete ich mich auf den Boden, um den Weg wieder frei zu machen, und meine Sachen zusammen zu suchen. Und dann sah ich ihn. Er hockte unmittelbar vor mir, und schaute mich schüchtern an. Seine Kokusnusbraunen Haare wehten ihm leicht ins Gesicht, und seine Himmelblau farbenen Augen ließen mich Kilometer tief fallen. Ich stürzte geradewegs in eine heile Welt, wo man noch nie etwas von Trauer und Schmerz gehört hatte. Seine Nase, sein Mund, es war einfach alles perfekt. Ich konnte mich gar nicht mehr von ihm abwenden, doch ich musste. Peinlich berührt starrte ich Löcher in den Boden, während ich vergeblich versuchte, meine Sachen aufzusammeln. »Entschuldigung«, flüsterte er, während er mir half, die Bücher zusammen zu suchen. »Es tut mir so leid, ich wollte das nicht, ich habe dich nicht kommen sehen«
»Echt, nicht schlimm«, log ich. Mindestens die Hälfte der Bücher waren hinüber, doch ich konnte ihm es ja auch nicht vorwerfen. »Ich hätte einfach besser aufpassen müssen.«, sagte ich nervös, zählte meine Bücher, und stellte noch nervöser fest, dass eines fehlte. Nach einem kurzem Blick sah ich mein Tagebuch vor mir liegen, und griff danach. Doch er war schneller. Seine Hand ruhte bereits auf dem Buchdeckel, er schien es gerade zu inspizieren, als ich meine auf seine legte. Es ist nur für einen kurzen Moment gewesen, doch lange genug, um mich vollkommen aus der Fassung zu bringen. Seine Wärme haute mich geradezu um, doch ich war in diesem Moment unfähig, mich auch nur zu bewegen. Ruckartig zog ich meine Hand zurück, und unsere Blicke trafen sich. Nicht in der Lage, etwas zu sagen riss ich mein kleines Büchlein an mich, und rappelte mich hastig auf. Auch er erhob sich schnell, und kniff seine Lippen zusammen. »Tut mir wirklich, wirklich richtig leid, ich wollte das nicht«, stammelte er. »Kann ich dich auf einen Kakao einladen, oder das sonst wie irgendwie wieder gut machen? Ich könnte...«  Ich unterbrach ihn: »Ist nicht nötig.« Und damit drehte ich mich auf dem Absatz meines Winterstiefels um, und erkämpfte mir den Weg zur Hauptstraße. Meine Bücher konnte ich nur mit aller Kraft halten, doch das war mir egal. Ich durfte sie nicht schon wieder fallen lassen, denn das wäre mehr als nur peinlich gewesen. Noch die ganze Zeit spürte ich, dass er mir nachschaute, doch als ich kurz bevor ich in die enge Seitengasse einbog noch mal nach hinten schaute, war er längst verschwunden.

Solange ich LebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt