Kapitel 17

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Nie hätte ich gedacht, dass ich vor meinem Bruder zurückschrecken würde.
Aber als ich meine Schilderung der Ereignisse mit Sam geendet hatte, starrte ich beinahe ungläubig in Joe's Gesicht, das eine Kälte ausstrahlte, die ich noch nie zuvor bei ihm gesehen hatte.
"Was... hast du gerade gesagt?", wisperte ich, meine Stimme so schwach, wie ich sie selber noch nie gehört hatte.
Joe zuckte mit den Schultern.
"Ich mein ja nur... um zu überleben müssen wir nun mal Massnahmen ergreifen, die dir brutal und ungerecht erscheinen. Was wäre denn passiert, wenn dieser Junge gebissen gewesen wäre und hier auf der Farm zu einem von ihnen geworden wäre? Hast du eine Ahnung wie viele von uns sich vielleicht infiziert hätten? Verstehst du, dies hier ist nicht mehr unsere heile Welt. Sie gehört jetzt nicht mehr uns, sondern den Untoten. Und wenn wir nicht aufpassen, wenn wir unvorsichtig werden, dann wird die Menschheit noch völlig von diesem Planeten verschwinden. Dann werden wir diesen Krieg verlieren."
Dann werden wir diesen Krieg verlieren...
Ich war unfähig etwas zu sagen, so schockiert war ich von den Worten, die aus dem Mund meines kleinen Bruders kamen. Irgendetwas an ihnen liess mich einen stechenden Schmerz in der Brust verspüren, doch ich bekam den Grund einfach nicht zu fassen.
Ich schluckte schwer, während meine Gedanken verzweifelt versuchten, den Grund für dieses Unwohlsein, dieses Gefühl, dass etwas nicht richtig war, zu finden.
Dann fügte Joe noch hinzu: "Deshalb habe ich gesagt, dass Sam Recht hatte; er hätte diese Leute unter gar keinen Umständen in die Farm lassen dürfen. Und wenn du nicht so sauer geworden wärst, hätte er auch dich in Ruhe gelassen."
Während er das sagte, sah er mir nicht in die Augen.
Das war einfach zu viel.
Ich hatte meinen Vater sterben sehen, ja, ihn sogar mit meinen eigenen Händen umgebracht; ich hatte etliche unschuldige Menschen erschossen, die sich in diese Monster verwandelt hatten; ich habe Menschen sterben sehen, die nichts als Schutz gebraucht hätten und ich hatte die Schwester von Eddy umgebracht.
Das alles konnte ich ertragen. Ich konnte weitermachen.
Aber ich konnte nicht meinen kleinen Bruder verlieren.
Nicht so, nicht jetzt. Nicht noch einmal.
Joe war wie eine Sonne, an der ich mich nach einer kalten, langen Nacht aufwärmen konnte. Ich konnte nicht zulassen, dass diese Sonne von einem Schatten überdeckt wurde. Ein Schatten namens Sam...
Die Erkenntnis traf mich wie ein Blitz. Der Grund für mein Unwohlsein war einfach: Dies waren nicht die Worte meines Bruders gewesen, nein.
Es waren Sam's Worte.
Kaum hatte ich diesen Gedanken gefasst, fixierte ich Joe ernst.
"Sind das wirklich deine Gedanken? Oder sind es Sam's?"
Meine Stimme klang überraschend scharf, beinahe berechnend, als ich in das erschrockene Gesicht meines Bruders blickte.
Falls ich falsch lag und dies wirklich die Meinung von Joe war, würde ich es akzeptieren. Ich würde es natürlich nicht gutheissen, aber ich wusste auch, dass ich diesen Jungen nicht so schnell umstimmen konnte, hatte er einmal einen Entschluss gefasst.
Doch sollte ich Recht haben und Joe plapperte einfach Sam's Worte nach, so würde ich dies nicht tolerieren. Denn eines wusste ich mit absoluter Sicherheit: Ich würde nicht zulassen, das Sam meinen Bruder mit seinen dreckigen Tricks auf seine Seite zog.
Joe sah mich noch immer entgeistert an, verneinte meine Frage jedoch nicht und ich wusste, dass ich Recht hatte. Ich seufzte und lächelte Joe schwach an, ein Zeichen, dass ich nicht böse auf ihn war, und auch seine Mundwinkel verzogen sich zu einem scheuen Lächeln. Dann konnte ich nicht mehr anders und klopfte etwas gröber mit meiner Faust auf seinen Kopf und schüttelte selbst den Kopf.
"Dummkopf. Sag so was nie wieder, okay?" Ich sah ihn einen kurzen Moment an, dann liess ich mein Blick in die Ferne schweifen.
"Weisst du, was ich denke? In einer Welt, wie sie jetzt ist, hat die Menschheit meiner Meinung nach nur ein Ziel: unsere Menschlichkeit nicht zu verlieren. Dass wir in einer Welt, die vom Tod geprägt ist, nicht selbst zu Monstern werden. Dass wir das eine beschützen, das uns ausmacht. Und das wir niemals vergessen, wer wir sind. Verlieren wir das aus den Augen, so sind wir verloren. Dann gibt es keine Rettung mehr für uns. Aber solange auch nur ein Mensch lebt, der sich all diesen Dingen bewusst ist, gibt es Hoffnung."
Ich blickte zurück zu meinem Bruder, nur um zu beobachten, wie er sich neben mir auf den Boden setzte und mir den Kopf an die Schulter lehnte. "Danke, Janey.", murmelte er, und beim Klang meines Kosenamens, der mir Dad vor so langer Zeit gegeben hatte, wurde mir so warm ums Herz wie schon lange nicht mehr.

The Cold WorldWo Geschichten leben. Entdecke jetzt