Kapitel 11

38 6 9
                                    

Sie fiel.

Ich schrie.

Giulia schrie.

Chloe schrie.

Sie hing.

Sie hing am Rettungsseil und hielt sich verzweifelt daran fest.

Ich schrie immer noch, als alle andern nicht mehr schrien und nur noch bewegungslos dastanden und sahen wie sie hing.

Ich schrie immer noch, als alle anderen los rannten um sie irgendwie vom Rettungsseil runter zu holen.

Ich schrie immer noch, als alle anderen probierten ihr ein Seil zu zuwerfen um sie damit hinüber zu ziehen.

Ich schrie immer noch, als sie das Seil nicht fing und gefährlich schaukelnd im Rettungsseil hing.

Ich schrie immer noch, als mich jemand in den Arm nahm.

Ich schrie nicht mehr, als sich mein Schreien in Schluchzten änderte.

***

Wir sassen in einem Kreis. Chloe war in eine Decke gehüllt. Wusstet ihr, dass man nach einem Schock, auch wenn es nur ein Kleiner war, einem Eiskalt wird? Ich nicht. Aber jetzt wusste ich, wie es sich anfühlte. Mir war eiskalt. Ich glaube wir standen alle leicht unter Schock. Niemand verstand, wie sich die Knoten einfach lösen konnten. Ich weiss nicht wieso es mich sosehr mitnahm. Ich kannte Chloe gerade mal ein paar Wochen. Natürlich mochte ich sie und alles, aber ich würde sie jetzt noch nicht als meine beste Freundin bezeichnen. Vielleicht war es, weil ich es den ganzen Tag gedacht hatte. Ich hatte es gespürt. Ich wusste es, irgendetwas Schlimmes würde heute passieren.

„Woran denkst du?", flüsterte Roy mir ins Ohr. Er hatte mich seit es passiert war nicht losgelassen. Ich glaube er hatte Angst, dass wenn er mich loslässt ich wieder zu schreien beginne. Vielleicht wäre das auch passiert. Ich bin jedenfalls froh, dass er mich nicht losgelassen hatte. Natürlich war mir klar, dass die Gerüchteküche nach diesem Abend noch mehr zu brodeln beginnen würde, aber das war gerade ziemlich egal. Er war für mich da, er gab mir warm, das war alles was zählte.

„Gar nichts", flüsterte ich und betrachtete seinen nachdenklichen Blick.

„Bitte lass mich nicht mehr los."

„Werde ich nicht."

Ich blickte in den Kreis. Chloe war da, Joanna hatte ihren Arm um sie gelegt und Susanna hielt ihre Hand. Daneben sass Giulia, die ihren Kopf auf Susannas Schulter gelegt hatte. Dann kam ich, neben Roy, der mich im Arm hielt. Rechts von Joanna war Hannes, der ihre Hand hielt. Neben Hannes sass Nicolas der den Kopf gesenkt hielt und immer noch besorgt wirkte. Wir waren alle miteinander verbunden, sie waren die Leute, die mir in der letzten Zeit richtig ans Herz gewachsen waren. Dann kamen alle anderen. Der seltsame Samuel und sein ebenfalls sonder-würdiger Kumpel Calvin. Die Schwestern Lara und Sina und die andern 7 Mädchen. Auch die Leiter, Thomas, Sara, Kathrin, John und Lukas. Und die restlichen Jungs. Aber die nahm ich alle nur am Rande wahr. Die wichtigsten Menschen, die ich in dieser Zeit kennengelernt hatte sassen rund um mich und waren miteinander verbunden und ich wusste am heutigen Tag war dieses Band noch um einiges gewachsen.

***

Den restlichen Tag durften wir so verbringen, wie wir mochten. Eigentlich hatten die Leiter einen OL vorgehabt, diesen Plan verwarfen sie allerdings bei den Geschehnissen. Sie boten einen Workshop an mit leichten Aufgaben, an dem man freiwillig teilnehmen durfte. Wir taten es nicht. Wir sassen noch lange zu acht in einem Kreis um das Feuer. Mit der Zeit begannen die Gespräche dahinzuplätschern und die Stimmung verlor ein wenig an Anspannung.

„He Jo, kommst du mal mit ich muss mal...", meinte ich irgendwann.

„Wieso müsst ihre Mädchen immer zu zweit aufs Klo? Ehrlich ich werde das glaube ich nie verstehen", sagte Nicolas.

„Das musst du gar nicht verstehen. Ist halt ein Mädchending", sagte Joanna und warf dabei kunstvoll ihre Haare über die Schultern, dann sagte sie an mich gewandt: „Natürlich."

„Alles klar?", fragte Roy leise mit besorgter Stimme.

„Sicher", antwortete ich und schenkte ihm ein leichtes Lächeln. Daraufhin liess er mich los und ich stand auf. Kälte empfing mich, seine Körpernähe hat mich die ganze Zeit warm gehalten. Joanna nahm meine Hand und wir gingen von den anderen weg.

„Na?"

„Was na?"

„Na wie geht's dir, na hast du immer noch das Bild vor den Augen, na was läuft da zwischen dir und Roy?"

„Dein na bezieht sich vor allem auf das Letzte nicht?"

"Nein. Nicht nur. Das interessiert mich natürlich brennend. Aber noch viel mehr mache ich mir Sorgen um dich. Wie geht es dir? Alles andere ist im Moment unwichtig. Und du weisst, zu hören, dass mich das zwischen dir und Roy weniger interessiert als sonst was wirst du nicht so schnell wieder hören. Ich hörte dich schreien, ich glaube jeder hat dich schreien gehört. Ich habe noch nie so viel Angst aus einer Stimme herausgehört. Und dann bin ich losgerannt ich hatte noch nie solche Panik, wie in dem Moment, als ich dich schreien gehört habe. Und der Schrei hat nicht aufgehört, du hast nicht aufgehört. Ich rannte und rannte immer schneller, bis ich bei der Seilbrücke ankam und sie sah. Ich sah sie da hängen in den Seilen und ich hörte deinen Schrei. Aber weisst du was, ich habe auch gesehen wie sie sie bereits am rausziehen waren. Sie waren dabei sie zu retten. Sie war schon beinahe bei euch auf der anderen Seite angekommen aber du schriest immer noch. Wieso hast du immer noch geschrien?"

„Ich weiss nicht wieso. Ich weiss auch nicht wie es mir geht. Ich weiss auch nicht wieso ich solch furchtbare Angst hatte. Aber ich konnte nicht aufhören. Es war das Einzige, was ich in diesem Moment tun konnte. Ich war wie erstarrt, ich konnte ihr nicht helfen. Ich wollte losrennen und ihr das Seil zuwerfen, ich wollte sie da raus holen, aber alles was ich tun konnte war dastehen und schreien. Ich war nicht fähig sonst etwas zu tun. Wieso konntest du es? Wie konntest du helfen? Wieso war ich die Einzige, die wie erstarrt war?"

„Keine Ahnung. Ich habe es nicht gesehen. Vielleicht liegt es daran. Ich habe nicht gesehen, wie sie fiel oder wie sie da hing. Du hast es gesehen weil du genau hingesehen hast. Niemand von uns hat es so genau gesehen wie du. Ich denke es liegt daran."

„Ich habe es geahnt."

„Wie meinst du das?"

„Ich habe es gespürt, den ganzen Tag schon.

„Was hast du gespürt?"

„Keine Ahnung, irgendetwas. Ich weiss nicht wieso, aber irgendwie wusste ich, dass irgendwas passieren wird. Aber weisst du was? Ich habe gedacht, es gehe dabei um mich. Ich habe gedacht mir würde was zustossen und ich war so erleichtert, als ich alle Posten hinter mir hatte. Ich dachte jetzt sei es vorbei, ich habe mir das Ganze nur eingebildet. Und dann fiel sie."

„Und dann haben wir sie da raus geholt. Es geht ihr gut Amelie. Sie ist okay. Du kannst dich beruhigen. Du musst nicht mehr schreien. Denk nicht mehr an das Bild, wie sie hängend vor dir ist, denk daran wie wir sie da runter geholt haben. Denk daran, dass es ihr gut geht, dass sie keinerlei Verletzungen davongetragen hat. Sie hat nur noch einen leichten Schock, aber es geht ihr gut. Morgen, oder sogar schon heute Abend wird sie wieder lachen, denn es geht ihr gut!"

„Dann sollte es mir vielleicht auch gut gehen..."

„Ja. Und dir geht es auch gut, du musst es nur zulassen."

Mir geht es gut.

Mir geht es gut.

Mir geht es gut.

Vier einfache Worte, ich habe sie schon tausende Male ausgesprochen. Manchmal meinte ich sie ernst, andere Male nicht. Ich durfte mich nicht so runterziehen lassen. Ihr ging es gut, also ging es mir auch gut. Es musste mir gut gehen.

Mir geht es gut.

Kiss me under the  light of a thousand starsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt