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I know it's sad but true

Er schaute mich an. Ich schaute ihn an. Keiner sagte ein Wort. Wie versteinert stand ich also da und starrte ihn an. Seine Füße steckten in schweren Bikerboots. Seine Beine in einer zerrissenen alten Jeans. Er hatte ein schwarzes enges T-Shirt an und in der Hand hielt er eine schwarze, glänzende Ibanez E-Gitarre. Das Kabel schlängelte sich hinter ihm durch den schmalen Türspalt und verschwand in der Schwärze des Zimmers dahinter.

Schon wieder einer, bei dem ein Piercing gut aussieht. Nein, nicht nur gut, es sah mega sexy aus. Es steckte in der Mitte seiner Unterlippe, das einzige was mir in diesem Moment durch den Kopf ging war, wie es sich wohl anfühlen würde, seine Lippen auf meinen zu spüren, sein kaltes Piercing an meine warmen Lippen und mein Piercing an seinen Lippen.
Seine dunkelbraunen, fast schwarzen Haare gingen ihm bis über die Schultern, lockten sich ganz leicht und steckten verstrubbelt hinter seinen Ohren. Aus seinen dunklen Augen starrte er zurück in meine Augen und musterte mich unverwandt.

Plötzlich fiel sein Blick auf Leo hinter mir und seine Augenbrauen zogen sich verärgert zusammen.

Ohoh, das sah nach Ärger aus.
Und schon ging es los.

„Leo, was fällt dir eigentlich ein? Kannst du dich nicht mehr an unsere goldene Regel erinnern? Kein Mädchen kommt hier in die Wohnung, außer es ist die Schwester oder die wirklich beste Freundin, oder die monatelange feste Freundin. Warum zur Hölle bringst du ein Mädchen mit hier her? Und dann ist die nicht mal eine von uns! Gerade von dir hätte ich was anderes erwartet! Na los, erklär mir doch, was ein wildfremdes Mädchen hier, in unserer Wohnung macht!"

Er holte kurz Luft, aber Leo schnitt ihm das Wort ab.

„Ja, du hast Recht. Ich hab die goldene Regel zwar nicht vergessen, aber das ist auch nicht meine feste Freundin oder meine beste Freundin, oder meine Schwester. Das, lieber Jim, ist Louise. Unsere neue Mitbewohnerin und sie ist sehr wohl eine von uns, man sieht es ihr nur nicht an. Lou? Darf ich vorstellen: Das ist Jim, ein hervorragender Gitarrist, doch manchmal bleiben seine Manieren dabei ein wenig auf der Strecke. Nimm es ihm nicht so übel."

Ich nickte und lächelte wieder, diesmal zu Jim. Der rang sich ebenfalls ein Lächeln ab und drehte sich um zum Gehen.

Mitten im Wohnzimmer blieb er nochmal stehen, drehte sich um und sagte: „Ehrlich gesagt, Leo, hätte ich auch nicht erwartet, dass sie deine feste Freundin ist."
Er verschwand hinter einer Ecke und schlug eine Türe zu.

Ich ballte mein Hände zu Fäusten und schnaubte leise. Was für ein Idiot!
Leo seufzte nur und drehte sich zu mir um.

„Also nochmal fürs Protokoll: Das ist Jim, mein eigentlich bester Freund. Manchmal ist er leider ein bisschen verletzend und mit fremden Leuten, vor allem Mädchen, hat ers nicht so. Aber mit Schlampen, ja mit denen hat ers jedes Wochenende."

Ich schaute ihn wahrscheinlich etwas zu verstört an, denn er fügte sofort hinzu:
„Versteh mich nicht falsch, er ist mein bester Freund und das schon lange, aber sein Verhalten kotzt mich manchmal einfach nur an. Ich will ihn auch gar nicht schlecht machen hier vor dir, aber sei einfach ein bisschen vorsichtig, was Jim betrifft. Okay?"

Ich lächelte nur und nickte leicht. Wahrscheinlich werde ich mich in Zukunft sowieso von ihm fernhalten, um keinen Streit anzufangen.
Leo bedeutete mir, ihm zu folgen und so betrat ich also vollends die Wohnung der beiden.

Wir standen nun mitten im Wohnzimmer. An der gegenüberliegenden Wand hing ein riesiger Flachbildfernseher, gegenüber davon standen zwei schwarze, glänzende Ledersofas. Ein Glastisch bildete das Zentrum des Zimmers. In einer Ecke stand eine riesige Stereoanlage, deren Lautsprecher in zwei andere Ecken verteilt waren. In einer anderen Ecke stand eine ziemlich große Palme.
An einer Wand war ein Bücherregal, das die gesamte Wand verdeckte, an den anderen Wänden hingen Fotos und Schallplatten und es führte jeweils eine Türe aus dem Wohnzimmer hinaus.

Beeindruckt schaute ich zu Leo, der mich gespannt ansah.

„Und, wie findest du unser Wohnzimmer?"

„Voll schön, wo führen die Türen hin?"

Sichtlich erleichtert lachte Leo und zeigte auf die Türe neben dem Fernseher.

„Da gehts zu den Schlafzimmern und dem Bad und dem Waschraum, Abstellkammer, wie auch immer du das nennen willst. Freut mich, wenn es dir schonmal gefällt. Und hoffentlich macht das dir nichts aus, dass wir nur ein Bad haben und du das dir mit zwei Idioten teilen musst."

Ich musste lachen: „Aber nein, kein Problem, es ist ja nur ein Idiot, Jim ist ja ganz nett."

Für eine Sekunde entgleisten Leos Gesichtszüge, dann fing er sich wieder und stieg in mein Lachen mit ein. Lachend zeigte er mir die Küche, die überraschend groß und sauber war.
Doch was nützt mir eine saubere Küche, wenn ich nicht mal kochen kann?

Leo führte mich wieder zurück in das Wohnzimmer und durch die andere Türe hindurch in einen dunklen Gang. Drei Türen führten links weg und zwei rechts.

„Welche Zimmer sind da links?", fragte ich Leo.

„Die vorderste Türe ist die Abstellkammer, dann kommt dein Zimmer und dann das Bad. Und rechts neben mir ist mein Zimmer und das hintere ist Jims Zimmer. Lichtschalter sind neben jeder Zimmertüre links. Hier ist es nämlich immer dunkel. Aber komm ich zeig dir noch schnell dein Zimmer und dann kannst du uns ja gleich bekochen!"

Ich schaute ihn zweifelnd an und meinte dann, dass er wohl kochen müsste, wenn er nicht an einer Lebensmittelvergiftung sterben wolle. Daraufhin lachte Leo und sagte, dass Jim und er sowas schon gewohnt seien, da sie beide grauenhafte Köche seien und ich in bester Gesellschaft wäre.

Mein Zimmer war relativ klein, also kleiner zumindest als in meiner alten Wohnung, aber da hab ich mir das Zimmer ja auch mit mr-ich-nenne-seinen-name-nicht geteilt. Weiße Wände, graue, durchsichtige Vorhänge vor dem großen Fenster, ein schwarz glänzender Schrank, ein - passend dazu - schwarz glänzendes großes Bett und ein Glasschreibtisch.
Fragend schaute ich Leo an, denn es kam nicht oft vor, dass Studentenbuden so komfortabel eingerichtet waren. Doch der zuckte nur mit den Schultern und meinte: „Das ist noch von unserem letzten Mitbewohner von vor einem Jahr. Der hatte - wie du - Stress mit seiner Freundin, ist hier eingezogen und hat alles hier eingerichtet. Eine Woche später ist er wieder mit seiner Freundin zusammengezogen und ein Monat später hat er ihr nen Heiratsantrag gemacht. Ich hoffe du bleibst uns länger erhalten."

„Hast du den auch am Boden zerstört auf der Brücke im Park aufgegabelt?", fragte ich Leo lachend, doch der schüttelte nur den Kopf. „Also ich glaube ja, dass ihr mich nicht so schnell wieder los werdet, auch wenn Jim das vielleicht gerne so hätte."

„Ach komm, er wird sich schon noch daran gewöhnen. Er hat wahrscheinlich nur Angst, dass ein Mädchen ihn ersetzen kann. Es gab lange Zeit nur Jim und mich hier, zwei beste Freunde, die alles teilen. Deswegen war das hier auch frauenfreie Zone, damit keiner sich an die des anderen ranmacht. Nur wenn es wirklich ernst war, haben wir unsere Freundinnen hergebracht, aber das kam bisher nicht oft vor. So wusste man genau, von der muss ich meine Pfoten lassen. Aber jetzt bist du da und scheinst dich mit mir gut zu verstehen, also weiß Jim nicht genau, was er mit dir anfangen soll. Gib ihm etwas Zeit, Lou. Das wird schon noch, glaub mir. Aber jetzt etwas anderes, wollen wir noch schnell in einen Club gehen? Rofa oder so? Kennst du sonst noch gute Clubs, also die unsere Musik spielen? Weil es ist erst neun Uhr, also könnten wir um zehn da sein und hätten immer noch viel zu viel Zeit."

Leo rief nach Jim, der sofort einwilligte, mit in die Rofa zu gehen und beide schauten mich an. Auch ich nickte und die Jungs, ja auch Jim, lächelten mich an und ich lächelte zurück. Und zum ersten Mal, zum allerersten Mal in meinem Leben ging ich in einen Club, ohne mich darum zu kümmern, wie ich aussah, ob ich perfekt geschminkt war und ob ich das passende anhatte. Es war mir einfach egal und es fühlte sich unglaublich gut an.

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