Prolog

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The hell's bells are ringing...

Ich schaute aus dem Fenster an meiner Türe. Ich erblickte das große, schmiedeeiserne Tor. Hoch und bedrohlich ragte es gen Himmel. Dahinter nur Schwärze und Bäume.
Nervös strich ich mir das schwarze Kleid glatt. Eins der wenigen Kleider, die ich überhaupt hatte.

„Na los. Steig aus. Vielleicht hilft es dir ja was."

Ich hörte meiner Mutter nicht zu. Mein Blick war weiterhin stur geradeaus auf das Tor gerichtet. Ich konnte schon die Kirchenglocken hören, die das Ende des Gottesdienstes einläuteten.

„Komm schon. Bitte. Lou, bitte geh da hin. Du kannst nicht ewig in diesem Loch sitzen. Bitte geh."

Endlich löste ich meinen Blick von den schwarzen Stäben und blickte meine Mutter an. In ihren Augen sah ich Schmerz. Schmerz und Sorge. Sie seufzte leise. Langsam bemerkte ich, dass sie es nicht mehr lange aushielt mit mir. Jetzt war es an mir, zu seufzen.

Ich legte meine Hand an den Griff. Langsam zog ich daran und öffnete die Türe. Ich setzte erst den linken, dann den rechten Fuß auf den Kiesweg. Heller, weißer Kies war es.

Was für eine Ironie!

Ich ging ein paar Schritte auf das Tor zu, betrachtete es ein paar Sekunden und drehte mich dann wieder zurück zum Auto, um meine Mutter ein letztes Mal anzuschauen. Sie lächelte mir aufmunternd zu, wendete auf den Platz und fuhr mit viel zu hoher Geschwindigkeit weg. Sie verschwand in einer Staubwolke. Ich hörte nur noch den Motor leiser und immer leiser werden.

Ich seufzte abermals und drehte mich wieder um. Die Glocken waren schon eine Zeit lang still. Vorsichtig setzte ich einen Fuß vor den anderen. In diesem Moment schien es mir, wie wenn ich verlernt hätte, zu laufen.
Meine DocMartens knirschten leise, als ich mit kleinen Schritten auf das Tor zu lief. Die Welt schien still zu stehen, alles war ruhig. Mit jedem Schritt kam ich dem Tod näher. Die Grabsteine ragten düster in die Höhe. Es war unheimlich. Irgendwo hörte ich einen Raben krächzen. Die Sonne verschwand hinter den Wolken. Die Bäume nahmen den letzten Rest des Lichtes weg und tauchten den Friedhof in ein dunkles Licht. Die Beleuchtung, die Grabsteine, die vielen dunklen Bäume, das Schwarze Kleid, das alles passte perfekt zu meiner Stimmung.

Etwas weiter vorne sah ich den Trauerzug langsam gehen. Automatisch lief ich ein bisschen schneller, um ihn noch einzuholen.
Ich schloss mich ihm an und ging still hinterher.
Vorne sah ich seine Familie laufen. Seine Schwester und seine Mutter hielten sich an den Händen. Beide weinten. Ich konnte ihr leises Schluchzen bis hier her hören. Hinter den beiden Frauen ging seine Oma mit seinem Opa. Beide gingen mit kleine gebrechlichen Schritten. Dahinter lief sein Vater mit seiner neuen blonden Schlampe. Sogar die weinte. Hinter ihnen mit ein bisschen Abstand gingen seine Freunde. Ich entdeckte meinen Bruder Jack, Noah und Jim, die andere Hälfte unserer Band. Vor dieser Katastrophe bestand diese aus Leo am Schlagzeug, Noah am Bass, Jim an der Gitarre und ich spielte ebenfalls Gitarre und sang.

Eigentlich hätte ich jetzt bei ihnen laufen müssen. Doch was sollte ich da? Unsere Band und somit auch unsere Freundschaft war in dem Moment auseinandergebrochen, als er starb.

Plötzlich blieb der Zug stehen. Es wurde das übliche Prozedere durchgemacht, nichts besonderes, nichts, das ihm auch nur in kleinster Weise würdig gewesen wäre.

Er war etwas besonderes.
Er war die wichtigste Person in meinem Leben.
Er war der Stützpfeiler so vieler Menschen.
Er war die Lebensfreude in Person.
Er war der klügste von uns allen und doch im Endeffekt der dümmste.
Er war mein bester Freund.
Er war.
Jetzt ist er tot.

Der Sarg wurde in das Loch gesenkt, die Erde wurde darauf geworfen, die Trauergäste verschwanden alle nach und nach, ich blieb zurück.

Ich stand am Rand des Grabes, blickte auf den Grabstein, auf die Blumen, auf die Kerzen und fragte mich, wie mein Leben nun weitergehen sollte.

Lange Zeit stand ich regungslos am Grabrand. Die Sonne ging unter und ich trat durch das große Tor wieder hinaus in die Welt. Es war, wie wenn mir eine große Last von den Schultern gefallen wäre. Doch das einzige was mir genommen worden war, war er und die Blumenkrone, die nun seinen Grabstein zierte.

Ziellos wanderte ich durch die Straßen. Mein Handy klingelte schon wieder. Ohne darauf zu schauen machte ich es endlich aus. Ich wusste auch so, wer andauernd anrief. Mama. Doch ich konnte einfach nicht mit ihr reden. Nicht jetzt. Nicht jetzt, wenn ich weiß, was für eine Belastung ich für sie bin, was für eine Belastung ich mit mir herumtrage.

Es war dunkel hier in der Stadt. Wolken verdeckten den Mond und die Sterne. Straßenlaternen spiegelten sich im Fluss. Ich lehnte mich an das Brückengeländer.

Hier war unser Ort.
Hier bin ich in ihn reingelaufen.
Hier haben wir uns das erste mal getroffen.
Hier haben wir um Mitternacht einen Eid auf unsere Band geschworen.
Hier haben wir unser erstes Musikvideo gedreht.
Hier haben wir die erste Zigarette geraucht, den ersten Alkoholrausch erlebt, die ersten Drogen genommen.

Gedankenverloren strich ich über das Geländer. Ich spürte die Kerben im Holz.
L+L 4ever
Leo und Lou.
Leopold und Louise.
Die besten Freunde.
Die Blutsbrüder.
Die nicht biologischen Geschwister.
Das Dreamteam.

Ich setzte einen Fuß in den Spalt im Geländer. Den zweiten Fuß neben hin. Langsam kletterte ich ganz auf das Geländet und setzte mich hin. Ich blickte über den Fluss, über die Lichter. Ich schaute in den Himmel, jetzt konnte ich ein paar Sterne sehen.

Nach einiger Zeit stellte ich mich hin. Ich schwankte kurz im Wind, bis ich mein Gleichgewicht gefunden hatte.
Dann stand ich felsenfest auf den schmalen Geländer. Ich blickte umher. Überall gehetzte Menschen, auch jetzt, mitten in der Nacht noch.

Wofür lebt man? Was gibt dem Leben seinen Sinn? Normale Menschen leben wohl für die Liebe, für die schönen Kleinigkeiten im Leben. Wofür lebe dann ich? Wenn niemand mehr übrig ist, den man liebt? Wofür lebe ich dann, wenn mein Leben ein einziges Trauerspiel ist, ja sogar ein Alptraum ist? Was für einen Grund habe ich noch zu leben, wenn es nicht einmal mehr schöne Kleinigkeiten gibt in meinem Leben? Wofür lebe ich noch? Was ist mein Grund? Die bittere Tatsache ist, es gibt keinen Grund, noch weiter zu leben für mich.

Ich atmete tief ein. Die Luft war verbraucht, roch nach Abgasen, nach Trauer, nach Stress, nach Verderben.
Ein letztes mal blickte ich nach unten und schloss die Augen. Der Wind fuhr unter mein Kleid und lies mich erschaudern.

Ich nahm noch einmal einen tiefen Atemzug. Ein letztes mal zog ich an meiner Zigarette, bevor ich meine Augen aufmachte und sie fallen lies. Ich schaute ihr hinterher, wie sie eine kleine Rauchfahne hinter sich her zog und im Wind trudelte. Kaum hörbar traf sie im Wasser auf. Der Strom riss sie mit sich.

Ich atmete wieder ein, lies die kalte Luft durch meine schwarzen Lungen strömen, schloss die Augen und machte mich bereit zum Sprung.

The Club 27Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt