Danya Aurora Narrag

23 3 0
                                    

Jahr 4572 des Lunor- Zyklus,

Najran 4. Mond, Tag 22,

Morgen,

Cadras, Narrag

Aurora

„Aurora, ich bitte euch! Bleibt endlich ruhig sitzen!", flehte Minerva und Aurora setzte sich genervt wieder aufrecht hin. Ihr linker Fuß war eingeschlafen und kribbelte wie verrückt, aber sie musste sitzen bleiben bis Minerva ihre Haare geflochten hatte. Minerva war Auroras Amme, ein mütterliche Frau, die mit beiden Beinen im Leben stand.

Aber heute wirkte sie nervös. Immer wieder rutschten ihr ein paar rote Strähnen aus den Fingern oder eine der unzähligen Haarnadeln, die sie brauchte, um Auroras Locken zu bändigen, fiel klappernd zu Boden. Es war nicht der Zeitdruck den sie nervös machte, sondern die Tatsache, dass Danya Joyce, Auroras Mutter, still und unbeweglich wie eine gläserne Statue in der Fensternische saß und jeden Handgriff beobachtete. Aurora sah an ihrer Mutter vorbei zum Fenster hinaus und rutschte unruhig auf ihrem Stuhl umher.

„Aurora", wies ihre Mutter sie zurecht. „Tu was deine Amme sagt und sitz still!" Die Stimme ihrer Mutter klang ruhig. Es war ihr keine Verärgerung anzuhören aber Aurora gehorchte trotzdem, riss sich zusammen und saß wieder still da. Ihrer Mutter merkte man Gefühle nicht an. Oder wenn, dann musste man sie schon sehr gut kennen. Aurora hatte gelernt sich vor der scheinbaren Unaufmerksamkeit ihrer Mutter in Acht zu nehmen. Zwar wurde Aurora selten bestraft, aber das lag hauptsächlich daran, dass der alte Fürst so nachsichtig war und Aurora sofort verzieh wenn sie etwas Verbotenes getan hatte. Und wenn der Fürst eine Bestrafung nicht guthieß, konnte auch ihre Mutter nichts mehr machen.

Aurora konnte sich einen Seufzer der Erleichterung nicht unterdrücken, als die letzte Haarnadel an ihrem Platz war und Minerva ihr erlaubte aufzustehen. Entschlossen schob Minerva sie vor den mannshohen Spiegel an der Wand. Aurora ließ alles mit sich geschehen, doch als sie sich selber im Spiegel betrachtete stockte ihr der Atem. Ihre Amme hatte ganze Arbeit geleistet. Ihre Haare waren locker um sich selbst geschlungen und fest gesteckt worden. Die kleinen silbernen Nadelköpfe blitzten im Licht, sobald Aurora den Kopf bewegte, wie kleine Diamanten.

Aurora hob den Kopf und sah ihrem Spiegelbild herausfordernd in die Augen. Es fühlte sich gut an. Mit dieser Frisur sah sie mindestens um zwei Jahre älter aus als sie war. Mit dem Gedanken an ihr Alter kehrte ihre schlechte Laune mit einem Schlag zurück. Heute Morgen, als die Sonne ihre ersten warmen Strahlen über die Gipfel des Tunarigebirges geschickt hatte, war sie dreizehn Sommer alt geworden. Es hätte einen wunderschönen Tag werden können. Doch dann hatte Aurora den Trupp Reiter über den Burghof reiten sehen. Ein dutzend große Schlachtrösser hatten den Hof mit Hufgeklapper gefüllt und auch die letzten Schläfer aus ihren Träumen gerissen. Der Anführer des Trupps, ein großer Mann mit breiten Schultern, hatte sie auch über die Entfernung sofort erkannt.

Ihr Onkel war aus Cadras, der Hauptstadt des Reiches, zurückgekehrt. Eigentlich hatte der Fürst ihr versprochen, einen Ausflug nach Narrag zu machen und den Tempel Sailas zu besuchen. Aber der Empfang Cessrians war nun wichtiger. Nur mit Mühe schaffte sie es ihre Tränen zurück zu halten. Das Rascheln von Seide riss Aurora aus ihren Gedanken. Lady Joyce war neben sie getreten. Sie hielt ein langes, dunkelblaues Seidenkleid in den Händen und lächelte ein bisschen.

„Du bist jetzt alt genug den Titel einer Danya zu tragen", sagte sie. „Dieses Kleid bekam ich an meinem dreizehnten Geburtstag von meiner Mutter. Es wurde in Faran für mich hergestellt. Nun sollst du es haben." Sie winkte Minerva zu sich und gab ihr das Kleid.

„Danke Mutter", sagte Aurora ebenso leise. „Es ist wunderschön". Ein Kleid aus Faran zu besitzen war zwar für Adlige keine Seltenheit. Im Gegenteil, es gehörte schon fast zum guten Ton. Aber es war trotzdem eine Besonderheit. Aurora schlüpfte aus ihrem Nachthemd und ließ sich von Minerva in das hellblaue Unterkleid helfen. Dann kam das dunkelblaue Kleid. Es dauerte eine Weile bis Minerva alle Knöpfe an ihrem Rücken und an ihren Ärmeln geschlossen hatte. Dann trat sie einen Schritt zurück und Aurora konnte sich in aller Ruhe betrachten. Von den Schultern bis zu den Hüften lag das Kleid eng an.

Prophecy - Die Vierte Tochter des WindesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt