Entscheidung

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Jahr 4572 des Lunor- Zyklus,

Najran, 4. Mond, Tag 23, Mittag,

Cadras, Narrag

Aurora

„Darf ich mich in meine Gemächer zurückziehen?", fragte Aurora höflich und sah ihren Großvater an. „Ich bin nicht mehr hungrig."

Danya Joyce warf einen missbilligenden Blick auf Auroras Teller, der unberührt vor ihr stand.

„Aurora, du weißt, dass du etwas essen sollst. Es ist ungesund, was du machst."

„Ich weiß, Mutter. Aber ich kann jetzt wirklich nichts essen", antwortete Aurora. Dann wandte sie sich wieder an den Fürsten. „Bitte, Großvater, darf ich gehen?"

Der Fürst tauschte einen Blick mit Cessrian. Dieser zuckte nur die Schultern.

„Lasst sie machen, was sie will, Vater. In ihrer Situation würdet ihr auch keinen Hunger verspüren."

Aurora warf ihrem Onkel einen überraschten Blick zu. Mit seiner Unterstützung hätte sie am wenigsten gerechnet. Sie hatte damit gerechnet, dass Cessrian versuchen würde ihr das Leben zur Hölle zu machen. Aber nichts dergleichen war geschehen. Er behandelte sie mit derselben kühlen Höflichkeit wie immer.

„Also gut", meinte der Fürst und nickte Aurora zu. „Du darfst gehen."

Aurora seufzte erleichtert und erhob sich. Sie verneigte sich vor dem Fürsten, ihrem Onkel und ihrer Mutter und verließ den Raum. Statt durch die großen, prunkvollen Gänge zu ihren Gemächern zu gehen, bog sie in einen schmalen Gang ein und wäre beinahe ausgerutscht. Der glatt polierte Steinboden glänzte feucht. Er war nur wenige Minuten vorher geputzt worden. Aurora sah auf ihre Seidenschühchen. Wenn sie sie anbehielt würde sie ganz bestimmt ausrutschen und das Wasser würde die Schuhe ruinieren. Also zog sie die Schuhe aus und lief barfuss weiter. Kurze Zeit später stand sie vor der Tür zu ihren Gemächern. Sie wollte die Tür öffnen aber etwas hielt sie zurück.

Sie war seit gestern Mittag nicht mehr in ihrem Zimmer gewesen. Es kam ihr so vor, als würde der Teller mit den vergifteten Törtchen noch immer auf ihrem Frisiertisch stehen. Als würde die Dienerin noch immer neben ihrem Bett auf dem Boden liegen. Aber das war natürlich Unsinn. Seit gestern war ihr Zimmer von oben bis unten geputzt worden. Was mit dem Leichnam der Dienerin geschehen war wusste sie nicht.

Sie streckte die Hand nach dem Türgriff aus und zögerte ein weiteres Mal als sie Stimmen hörte. Und zwar aus ihrem Zimmer. Erschrocken trat sie einen Schritt zurück. Doch dann siegte die Neugierde und sie trat an die Tür heran und legte ihr Ohr an das Holz. Erst hörte sie nur Gemurmel, aber nach und nach verstand sie Wörter und Satzfetzen.

„...seid ihr hier?", hörte sie einen Mann fragen.

„Um deine Arbeit zu überwachen", antwortete ein Zweiter. Diese Stimme klang so kalt wie Eis. Der erste Mann sagte etwas, was sie nicht verstand. Was die kalte Stimme daraufhin antwortete, verstand sie allerdings.

„Das hoffe ich für dich. Das war das zweite Mal, das du versagt hast." Die Stimme wurde noch eine Spur kälter. „Über dein erstes Versagen reden wir noch später. Wird es dieses Mal funktionieren?"

„Ja, Herr", antwortete der Erste leise. Aurora hielt vor Angst die Luft an. Sprachen die Fremden etwa über den Mordanschlag auf sie? Und noch wichtiger, planten sie einen weiteren?

„Ihr gesamter Schmuck und die Haarnadeln sind vergiftete, die Bettlaken ebenfalls", fuhr er fort. „Sie wird die nächste Nacht nicht überleben!"

Aurora konnte nur mit Mühe einen Schrei unterdrücken. Sie konnte nicht glauben, was sie da gerade gehört hatte. Es konnte einfach nicht wahr sein! Die Attentäter hatten freien Zugang zur Burg, zu ihrem Zimmer! Sie war hier nicht mehr sicher!

Sie drückte ihr Ohr noch fester an das harte Holz.

„...zu verschwinden", hörte sie die kalte Stimme sagen. Dann folgte Stille. Aurora atmete tief durch um sich zu beruhigen. Wenn sie in der Burg nicht mehr sicher war, war sie es dann überhaupt noch irgendwo? Wenn es sich bei dem Mordanschlag um das Werk eines bezahlten Attentäters handelte, dann würde dieser ihr überall hin folgen. Außer wenn...

Aurora war erstaunt über ihre eigenen Gedanken. So etwas Verrücktes konnte sie doch nicht machen. Aber wenn ihre Überlegungen stimmten, musste sie irgendwohin gehen, wo niemand sie kannte. Langsam zählte Aurora auf hundert. Dann schickte sie ein Stoßgebet zu Saila und öffnete die Tür. Das Zimmer war leer. Aurora trat vorsichtig ein und blieb unschlüssig in der Mitte des Raumes stehen. Sie wusste, dass sie weder ihr Schmuck, noch ihre Haarnadeln, noch ihre Bettlaken anfassen durfte. Aber war das wirklich alles, was vergiftet wurde? Hatte sie vielleicht etwas nur nicht gehört?

Vorsichtig bahnte sie sich einen Weg zu ihrem Schreibtisch. In einer verborgenen Schublade lagen ein Beutel mit Geld und ein kleines Messer. Aurora nahm beides und trat an ihrem Kleiderschrank. Eine ganze Weile musterte sie ihre Kleider und suchte etwas, was möglichst unauffällig war. Schließlich entschied sie sich für ihr Reitkleid und lederne Schuhe. Es war ein rotbraunes Kleid, das auf beiden Seiten bis zur Hüfte offen war, mit einem beigen, weiten Unterrock. Aurora zog sich um und verstaute Messer und Geldbeutel in der Innentasche. Dann trat sie durch eine Nebentür in Minervas Zimmer. Sie nahm ein Blatt Papier und schrieb eine Warnung. Sie legte das Papier in ihrem Zimmer vor die Tür. Jeder, der das Zimmer betrat, würde fast darüber stolpern. Dann schrieb sie noch einen Brief an ihre Mutter. Zuletzt durchstöberte sie noch Minervas Kleiderschrank, bis sie einen Mantel fand. Er war ihr zwar ein bisschen zu groß aber für ihr Vorhaben war er perfekt. Sie packte den Umhang in einen Beutel und verließ den Raum.

Prophecy - Die Vierte Tochter des WindesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt