1: Stegi

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Sichtlich angespannt ließ ich meinen Blick über die 'Trauernden' wandern.
- Trauernde, von wegen. Jeder Platz der kleinen Kirche war besetzt, doch nur zwei Leute weinten: Meine Mutter und eine ältere Frau in der ersten Reihe.
Der Rest sah mich mehr oder weniger emotionslos an, selbst ihr Vater. Ich hätte ihnen liebend gern Emotionen ins Gesicht geprügelt, aber ich musste stark bleiben.
10 Sätze müsste ich hinter mich bringen. 10 Sätze lang stark bleiben.
"Lia war ein unglaublich toller Mensch. Ein Engel, könnte man sagen.
Sie war immer für Jeden da und wollte am liebsten jedem Einzelnen helfen.
Sie wusste ja wie sich Schmerzen anfühlen...
Trotzdem hat sie es irgendwie geschafft mich aus diesem Teufelskreis zu befreien und somit mein Leben zu retten! Bei der Gelegenheit- Danke Lia. Vielen Dank, wirklich. Du hast so viel für mich getan, doch ich konnte es dir nie zurück geben.
Ich habe wirklich versucht für sie da zu sein, ihr durch die schweren Zeiten zu helfen, doch ich konnte es nicht.
Es tut mir so Leid, Lia, ehrlich."
Ich verschluckte einige Tränen und stürmte dann vom Altar.
Ich wollte nicht im Mittelpunkt stehen, Lia sollte im Mittelpunkt stehen. Alle sollten sehen, was SIE dem armen Mädchen angetan hatten.
Sie alle waren Schuld an ihrem Tod.

- - - - -

Ich saß wieder einmal kerzengrade im Bett.
Wieder hatte ich von ihr geträumt, von meiner Nachbarin Lia. Ich kannte sie zwar erst seit knapp zwei Wochen und sah sie nur, wenn sie hin und wieder abends mit ihrem Hund raus ging, doch ich träumte jede Nacht von ihr. Es war der selbe Traum von ihrer Beerdigung, der mich Nacht für Nacht verfolgte.
Doch dieses Mal war es anders. Ich konnte mich an jedes Detail erinnern. Jedes verhasste Gesicht, jedes gesprochene Wort und jede vergossene Träne.
So entschloss ich mich alles aufzuschreiben. Irgendwas musste dieser Traum bedeuten und das wollte ich herausfinden.

Gerade wollte ich zurück ins Bett kriechen, da öffnete meine Mutter die Tür. Sie balancierte einen riesigen Stapel Pullover auf dem Arm. Und genau dieser landete keine zwei Sekunden später auf dem Boden.
"Du schon wach?!" Sie sah mich erstaunt an und hob vorsichtig einen Pullover auf.
"Ja." Antwortete ich, "Ich hatte wieder diesen Traum."
"Was für einen Traum?"
Wow, da konnte man ja mal wieder sehen, wie gut Eltern einem doch zu hörten.
"Diesen Traum mit Lia." Stöhnte ich genervt.
"Geh doch mal rüber, vielleicht ist es ein Zeichen." Meine Mutter grinste über ihre Schulter zu mir. Sie meinte das zwar nicht ernst, doch irgendwo hatte sie Recht. Und wenn es mir nur helfen würde wieder klar zu denken, war es das Beste Sie zu besuchen. Was sollte denn groß passieren?
"Genau das tue ich jetzt." Ich schubste sie sanft zur Seite und zog einen schlicht schwarzen Hoodie, sowie eine dunkle Jeans aus dem Schrank.
Nachdem Mum mich endlich in Ruhe ließ, warf ich mir die Klamotten über und machte mich auch sonst fertig.

Da es immer noch recht früh war fuhr ich meinen Computer hoch. Vielleicht war Tim ja schon im TS!
Tatsächlich war Gott mal gnädig mit mir und ich durfte so früh am Morgen schon die Stimme meines besten Freundes hören.
Tatsächlich war Tim die wichtigste Person in meinem Leben, dabei hatte ich ihm noch nicht einmal in die Augen sehen können. Vermutlich war das aber auch besser so.
Wüsste er, was für ein Mensch ich wirklich war, würde er mich wohl nicht mehr mögen. Tim dachte wirklich immer noch, dass ich ein ganz normaler Student war, der hin und wieder Videos machte, aber meistens lernte.
Er musste mich echt für einen dieser super Studenten halten. Dabei sah es in Wirklichkeit ganz anders aus. Ich würde mein Studium vermutlich nicht schaffen, da ich an den meisten Tagen nichtmal mein Bett verließ.
"Du schon wach, Stegi?" Tims dunkle Stimme riss mich aus meinen Gedanken.
Jap, diese Uhrzeit war für mich durchaus nicht üblich, erst recht nicht in den Semesterferien.
Ich hasste die Uni, ich hasste die Professoren und vor allem hasste ich die Studenten.
Gut, zwei - drei Leute waren vielleicht ganz in Ordnung. Freunde hatte ich hier ja sowieso keine. Dafür hatte ich ja meine Internetfreunde und die ganzen Ficker!
Die 'Ficker' waren schon verrückt, wie konnten sie bitte jemanden wie mich feiern?
"Stegi?" Tims Stimme ertönte erneut.
"Eh ja?"
"Du hast mir nicht geantwortet." Er lachte noch. Zum Glück.
"Achso ja, konnte nicht wieder einschlafen."
"Okay. Ich hab durchgemacht." Ich konnte sein Grinsen regelrecht hören.
"Na und?"
"Und ich wollte jetzt eigentlich schlafen gehen." Verkündete er dann auch noch.
"Och Tiiiiiim." Quengelte ich.
"Mach doch lieber mal was mit deinen richtigen Freunden." Schlug Tim vor.
Das war sicher nett gemeint, dennoch verletzte es mich. Tim war doch mein einziger 'richtiger' Freund -aber nur weil er mich nicht richtig kannte.
"Naja, ich wollte auch noch meine Nachbarin besuchen."
"Lol. Warum das?"
"Weil sie grade erst hergezogen ist und noch nicht so viele Leute kennt." Log ich.
"Stegi der Samariter." Scherzte Tim wieder.
"Ne," ich holte tief Luft, "ich bin nur nett."
"Jaja, gute Nacht du lieber Junge." Mit diesen Worten war mein bester Freund verschwunden und ich saß wie so oft verloren in meinem kleinen Zimmer.
Tim hatte ja keine Ahnung, wie gut es mir tat seine Stimme zu hören. Wie gut er mir tat. Wie sehr ich ihn wirklich brauchte..

Nachdem Tim mich verlassen hatte, aß ich noch eine kleine Scheibe Brot und ging dann die wenigen Schritte rüber zu Lias Haus. Da sie wirklich direkt gegenüber wohnte, konnte ich den Weg in 20 Sekunden zurück legen. Und hatte so zum Glück kaum Zeit zum Nachdenken.
Wollte ich überhaupt rüber gehen? Wollte sie mich überhaupt sehen?
-Vermutlich nicht, wer wollte mich schon sehen. Ich war... Gut, was war ich überhaupt? Ich war nichts. Das beschrieb mich wohl ganz gut, ein Nichts.
Ich war kurz davor wieder heimzugehen. Ich würde mich doch so wie so nur blamieren. Lia war, so viel ich erkennen konnte, ein wunderschönes Mädchen.
Was wollte ein wunderschönes Mädchen, wie sie, denn von einem Nichts, wie mir.
Doch zu spät, die Tür öffnete sich bereits und Lia starrte mich an.
Sie sah anders aus, als ich sie mir vorgestellt hatte. Sie war viel zu dünn und ihre Haut war extrem blass. Ihre Haare hingen wirr und kraftlos über den geröteten Augen und ihre Lippen waren kaputt gekaut. Und trotzdem hatte sie so etwas an sich, etwas, dass mich sprachlos machte.
Da auch Lia keine Anzeichen machte, irgendwann zu sprechen, beendete erst ein leises Platschen die Stille.
Es war ein Tropfen Blut, der auf dem teuren Mamorboden gelandet war. Und da, noch einer und noch einer.
Mein Blick schnellte automatisch hoch zu ihrem Arm. Der Ärmel ihres viel zu großen 5 Seconds of Summer- Hoodies war bereits dunkelrot gefärbt und begann nun auch zu tropfen.
Doch Lia lächelte nur.
"Es ist vorbei." Flüsterte sie noch, dann sank sie in sich zusammen.
Im letzen Moment hielt ich sie noch fest. Ich legte sie vorsichtig auf dem kalten Boden ab und schloss die Augen. Ich hatte das so oft hinter mir, doch ich wusste immer noch nicht, was ich tun sollte. Vor allem, da ich sonst der war, der sich umbrachte.

It's hard enough to save one life » Stegi.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt