5: Stegis Geheimnis

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Ich hatte mich ausruhen sollen. Mich ausruhen. Wie sollte ich mich bitte ausruhen, wenn Stegi gestern einfach so abgehauen war. Einfach so.
Stattdessen lag ich, wie so oft, die ganze Nacht wach und machte mir Gedanken. Ja, ich hatte Angst, dass der Junge mich hasste, dass ich ihn schon jetzt verscheucht hatte.
Es war jetzt etwa 10:00 Uhr und ich war fest entschlossen zu Stegi rüber zu gehen. Ich wollte mich entschuldigen. Dafür, was ich gestern getan hatte. Dass er mir wieder einmal helfen musste und dass ich so gemein zu ihm war. Er konnte ja gar nichts dafür.
Dennoch musste ich mich zu aller erst fertig machen. Ich säuberte auch gleich meine Wunden und verband sie neu. Zu letzt musste ich mich natürlich noch schminken. Ungeschminkt- dass wollte ich Stegi auf gar keinen Fall antun.

Es dauerte eine ganze Zeit, bis ich endlich bei meinen Nachbarn ankam. Vielleicht hätte es mit der Tatsache zu tun, dass ich schüchtern war. Und Angst hatte, ich würde sie stören.
Wider Erwartens wurde ich drüben total freundlich begrüßt.
Stegi war zwar nicht da, doch seine Mutter- deren Namen ich immer noch nicht kannte- bat mir an in seinem Zimmer zu warten. Ich fühlte mich zwar nicht besonders wohl dabei, doch Stegis Mum hatte mir versichert, er würde jeden Moment Heim kommen.
Ich betrat langsam sein Zimmer, schloss die Tür und steuerte auf sein Bett zu. Er hatte heute Morgen wohl keine Zeit gehabt die Decken zu machen. Sie lagen ,nur schnell nach hinten geworfen, auf dem Bett und ließen einem freie Sicht auf einen dunkleren Fleck im ohnehin schon dunkelblauen Laken.
'Wahrscheinlich irgendwas zu trinken.' Redete ich mir ein und beachtete den Fleck nicht weiter.
Etwas anderes hatte meine Aufmerksamkeit ergattert: eine kleine, schön verzierte Dose auf dem Beistelltisch- eine in der Leute wie ich Klingen aufbewahren würden.
Neugierig, wie ich nun war, öffnete ich besagte Dose. Und was kam zum vorscheinen?
Eine kleine Sammlung Klingen.
Mir blieb augenblicklich die Luft weg und ich musste an gestern Abend denken:
"Du weißt nichts, Stegi, gar nichts."
Mir wurde so schlecht. Natürlich wusste Stegi es. Er wusste alles, einfach alles.
Er tat es ja selbst, er tat sich selbst weh.
Vielleicht sogar wegen mir.
Nun kamen mir die Tränen.
Stegi hatte sich weh getan, wegen mir. Weil ich so zu ihm war, weil ich ihn überforderte.
Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Wie ich das jemals wieder gut machen konnte. Doch irgendwie trugen meine Füße mich aus dem Zimmer, in den gegenüberliegenden Raum mit dem goldenen Schildchen, auf dem 'Bad' stand
Ich trat vor Verzweiflung einmal auf die geschlossene Tür ein.
Dann begann ich jedes dieser schrecklichen, kleinen Dinger einzeln die Toilette runterzuspülen.
Sicher war das verboten, oder es konnte die Toilette verstopfen, doch das war mir so was von egal. Alles war besser als ein trauriger Junge der sich selbst verletzte.
Zurück in Stegis Zimmer nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und schrieb ihm einen kleinen Zettel.
'Bleib stark.<3' stand in winzigen Buchstaben darauf geschrieben.
Ich war mir so unsicher wegen dem Herzchen. Vielleicht würde er es falsch interpretieren und mich dann hassen, weil er dachte ich würde auf ihn stehen.
Doch ich hatte keine Zeit mehr irgendwas zu ändern. Ich hörte Stegis Mutter unten ganz klar mit ihrem Sohn reden. Er war wieder da.
Ich legte denn Zettel in die Dose und warf sie regelrecht zurück auf den Nachtschrank. Mich selbst ließ ich erleichtert zurück auf den Stuhl fallen.
Im selben Moment betrat Stegi sein Zimmer. Er sah mich überrascht, aber keinesfalls böse oder so, an. Sein Blick wanderte durch den Raum und blieb an der kleinen Dose hängen. Seine Augen weiteten sich und er stürmte quer durchs Zimmer um sie schnell in der Schublade verschwinden zu lassen. Die schloss er dann ab.
Ich konnte zwar nur knapp zwei Sekunden reinschauen, dennoch wusste ich was er in dieser Schublade aufbewahrte. Medikamente- einige nahm ich selbst, oder hatte sie genommen. Es waren Antidepressiva, Beruhigungsmittel, Schlafmittel und verschiedene Schmerzmittel. Auf jeden Fall genug um davon zu sterben. Wenn man es versuchte, natürlich.
Ich schluckte die aufkommenden Tränen herunter und begann zu reden.
"Deine Mum meinte, ich dürfte hier auf dich warten."
"Klar." Antwortete er, "Ich bin nicht böse."
"Ich.. Ich wollte mich eigentlich bei dir entschuldigen, wegen gestern."
"Du musst dich nicht entschuldigen, Lia. Ich bin einfach abgehauen." Stegis Blick wanderte beschämt zu Boden.
"Schon vergessen."
Es war eine Weile still, doch dieses Mal musste ich die Stille nicht brechen.
"Magst du vielleicht was unternehmen, wenn du schon hier bist?"
Ich nickte überschwänglich, besonders da ich sehen konnte wie viel Überwindungskraft das gekostet haben musste.
"Möchtest du raus gehen? Oder..."
"Nein, nein." Ich unterbrach ihn. "Raus klingt gut."
Ich sprang überzeugt vom Stuhl, auf dem ich noch immer saß, auf.
"Lass mich nur noch schnell die Decken richten, ja?"
Stegi begann über's ganze Gesicht zu grinsen. An sich sah er erleichtert aus.
Ich ließ mich von seiner 'Guten' Laune anstecken und lächelte zurück. Es tat weh das zuzugeben, aber ich wusste nicht einmal mehr wann ich das letzte mal gelächelt hatte, also so richtig, echt.
Es machte mich einfach glücklich Stegi glücklich zu sehen.
Und ich glaubte, das war der Moment in dem ich mir ein Ziel setzte: Stegi sollte nicht so enden wie ich, er sollte wieder glücklich werden.

It's hard enough to save one life » Stegi.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt