Kapitel 1

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Maya

Ununterbrochen laufe ich auf und ab, tigere ruhelos von einer Ecke des Raumes zur anderen.

Meine Nervosität steigt beständig und mein Herz schlägt viel zu schnell.

Es ist vollkommen ruhig, nicht ein einziges Geräusch erfüllt das von unangenehm grellem Neonlicht durchflutete Zimmer. Stattdessen breitet die Stille sich schleichend aus und scheint mich beinahe zu erdrücken, ebenso wie die vielen Fragen, die durch meinen Kopf schwirren. Es spielt sich exakt dasselbe Szenario wie auch an jedem anderen Tag ab, an den ich mich erinnern kann. Was nicht viele sind, nebenbei bemerkt...

Ich atme aus und lasse mich auf das unbequeme Bett fallen, welches mir von dem seltsamen jungen Mann im weißen Kittel zugeteilt worden ist, der mir genauso surreal erscheint wie der Raum, in dem ich mich aus mir rätselhaften Gründen befinde und welcher mir mit jeder Sekunde mehr vorkommt, wie ein Forschungslabor. Doch was ist es, das ausgerechnet mich zum Experiment machen soll?

Mein Schädel brummt und ich taste mit zittrigen Fingern nach dem silbernen Medaillon an meinem Hals, das mein bester Freund mir geschenkt hat. Dem einzigen Gegenstand, der mir ein Gefühl von Vertrautheit vermittelt. Es ist wie ein Anker in dieser ewigen Trostlosigkeit, welche das Labor förmlich auszustrahlen scheint. Während ich es zwischen meinen Fingern ununterbrochen hin und her drehe, versuche ich mit aller Kraft, mich an seinen Namen zu erinnern. „R..."

Seufzend gebe ich es auf und reibe mir die Stirn. Es hat doch keinen Sinn... Ich muss unter Dissoziativer Amnesie leiden, anders kann ich mir meine lückenhaften Erinnerungen nicht erklären.

Als ich aus dem Augenwinkel wahrnehme, wie die Türklinke sich langsam nach unten neigt, spannen sich meine Muskeln an und ich unterdrücke den Drang, aufzuspringen. Mein Herz schlägt noch schneller - falls das überhaupt möglich ist. In einer wachsamen Haltung lehne ich mich vor, meine vor Nervosität zitternden Hände zu schwachen Fäusten geballt.

„Hast du genug Schlaf gehabt?", fragt mich eine kühle, ruhige Stimme, die ich dem jungen Mann, meinem Pfleger, zuordne, welcher mich täglich besucht und mir jedes Mal seltsame Pillen oder Spritzen gibt, bevor er mich wieder allein lässt. Wie immer trägt er einen weißen Kittel, dessen Ärmel lässig hochgekrempelt sind und seine in völligem Kontrast zur restlichen Erscheinung tätowierten Unterarme freigeben. Das Tattoo besteht aus mehreren ineinander verschlungenen Mustern, die perfekt aufeinander abgestimmt sind.

Am linken Arm verschwindet der obere Teil eines Violinschlüssels unter dem weißen Stoff. Ich weiß aus dem Geschichtsunterricht, dass Tattoos vor vielen Jahren nicht gern am Arbeitsplatz gesehen wurden und tätowierte Menschen unter vielen Vorurteilen leiden mussten, was in der heutigen Zeit jedoch komplett anders ist. Jeder von uns hat sein eigenes ganz besonderes Tattoo, das ist der einzige Unterschied zwischen den Menschen, den die Regierung zugelassen hat.

Es dient uns als eine Art der Markierung, die jeden einzelnen Bürger ausmacht. Ihn als Persönlichkeit mit einer eigenen Identität kennzeichnet. Erst wenn wir das achtzehnte Lebensjahr vollenden, wird es fertig gestochen, um uns wie eine Art Ritual aus unserer Kindheit zu verabschieden. Da ich erst siebzehn bin, ist es bei mir noch nicht so weit... Enttäuscht stelle ich fest, dass ich nicht einmal mehr weiß, an welchem Tag ich Geburtstag habe und wann es endlich so weit ist, meine Markierung fertig zu bringen. Und ob ich sie überhaupt jemals fertig stechen lassen werde oder für den Rest meines Lebens in dieser schneeweißen Zelle festsitze...

Ich schlucke schwer, während mir Tränen in die Augen treten. Der Gedanke daran deprimiert mich zu sehr, es wäre zu schrecklich, um wahr zu sein. Ich blinzele mehrmals, um nicht wie ein Kleinkind loszuheulen. Vor ihm werde ich nicht weinen.

Captured - Fehler des SystemsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt