Olivia
Mehrere Stunden nach unserer Schicht laufen Robin und ich gemeinsam durch die Dunkelheit.
In dem Viertel der Arbeiter ist die nächtliche Beleuchtung meistens nicht sehr überzeugend, was im Gebiet der Regierung gänzlich anders ist. Mein großer Bruder hat mir einmal erzählt, dass man dort die Nacht nicht mehr vom Tag unterscheiden kann, da die Lichter nie erlöschen.
Dass es das Nachtleben nicht einmal mehr gibt.
„Bist du dir sicher, dass es dir gut geht? Vielleicht... solltest du mal überlegen, die Pillen zu nehmen? Es geht schließlich um deine Gesundheit", bringe ich das Gespräch auf das Thema, welches mich schon seit der Kontrolle beschäftigt.
Diese ist wie immer verlaufen - die Beamten haben Robins Anzahl an Medikamenten erhöht, aber ich kenne ihn gut genug, um zu wissen, dass er sie nicht einnehmen wird.
Doch Robin antwortet mir nicht. Es ist, als hätte er mich nicht mal gehört.
Während wir auf der stählernen Brücke entlang und an zahlreichen Häusern vorbeilaufen, bekomme ich mit, wie er urplötzlich stehen bleibt und sich wie in Trance an eine Stelle unter seinem Hals fasst.
Mich irritiert diese Geste schon seit Längerem, da er sie täglich unzählige Male wiederholt und sich dann in seinen Gedanken verliert, ohne es selbst überhaupt zu registrieren. Meistens kommt das vor, wenn er mit einem melancholischen Gesichtsausdruck und leerem Blick in die Ferne starrt. Ich habe mich jedoch noch nie getraut, ihn zu fragen, was er da an seinem Hals sucht. Früher hat er immer eine Kette mit einem silbernen Anhänger getragen, zumindest glaube ich das...
Ich bleibe neben ihm stehen und greife sanft nach seiner Hand. „Robin?"
Er hebt den Blick und schaut anschließend auf unsere ineinander verschränkten Hände herab, ehe er schließlich mich ansieht - es scheint, als würde er mich gerade erst wahrnehmen. Doch dann erlischt das sehnsüchtige Funkeln in seinen Augen mit einem Mal, als würde ihn mein Anblick schrecklich enttäuschen. Es fühlt sich an wie ein Schlag in die Magengrube, als mir bewusst wird, dass er für einen kurzen Moment tatsächlich gehofft hatte, ich wäre sie.
Reflexartig lasse ich seine Hand los, als hätte ich mich daran verbrannt.
Sie ist gerade mal seit zwei Monaten weg. Dachtest du etwa, er vergisst sie und schenkt ausgerechnet dir Aufmerksamkeit? Ohne die Pillen wird das nichts - und die will er ja nicht einnehmen.
Am liebsten würde ich die gehässige Stimme in meinem Inneren zurechtweisen, aufzuhören.
Aber ich weiß, dass es stimmt. Ab und zu überkommt mich ein schlechtes Gewissen, da es eigentlich nicht fair von mir ist, schlecht über Maya zu denken. Ich sollte genau wie Robin traurig sein, dass sie weg ist - auch wenn ich nie in einem engen, geschweige denn guten Verhältnis zu ihr stand.
Wäre er auch so deprimiert, wenn sie dich mitgenommen hätten? Wohl kaum, versetzt die Stimme in meinem Inneren. Obwohl ich dagegen ankämpfe, treten mir Tränen in die Augen. Verstohlen wische ich sie mit dem Handrücken weg - zum ersten Mal bin ich dankbar dafür, dass es zu dieser Jahreszeit früher dunkel wird.
Doch selbst wenn es hell gewesen wäre, hätte Robin nichts bemerkt. Dazu ist er viel zu sehr mit seinen eigenen verletzten Gefühlen beschäftigt - er nimmt nichts anderes mehr wahr.
„Tut mir leid, ich war gerade...", stammelt Robin auch schon mit einem Anflug von Reue und sucht nach einer plausiblen Erklärung, nach einer Ausrede. Jedoch löst sein Satz sich einfach auf, als er verstummt. Mit einem verlegenen Lächeln sieht er mich an und fährt sich durch seine hellbraunen Haare, die ich vor einigen Stunden ebenfalls noch durchwuschelt habe.
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Captured - Fehler des Systems
AdventureMein Atem geht flacher und ich weiche reflexartig zurück, bis mein Rücken an die schneeweiße Wand stößt, die sich selbst durch meine Kleidung hindurch anfühlt wie eine harte Eisfläche. Ich komme mir vor wie ein verletztes Tier, das von einem Jäger i...