3.Kapitel

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Ich wurde eindeutig verrückt.

Als der Bus schließlich an meiner Haltestelle hielt, sprang ich auf und stürmte hinaus. Auch lief ich die paar Meter zu meiner Wohnung nicht, ich rannte sie. Ich nahm immer drei Treppen auf einmal und zitterte so sehr, dass mir mein Schlüssel erst nochmal runter fiel, bevor ich es schaffte, die Tür aufzuschließen. Sofort knallte ich sie hinter mir zu und drehte den Schlüssen zwei mal im Schloss herum.
Dennoch blieb das Gefühl von Sicherheit, dass mich normalerweise durchströmte, sobald ich die Tür hinter mir schloss, aus.

"Ich werde verrückt",  sagte ich laut vor mir her und schüttelte leicht meinen Kopf. Nebenbei drückte ich noch auf einen Lichtschalter.

"Nein, du wirst nicht verrückt."

Vor lauter Schreck stieß ich einen kleinen Schrei aus, bevor ich mich verstört und panisch zu der Stimme umdrehte.
Und tatsächlich, der Kerl, der mich schon den ganzen Tag verfolgte, stand dort, mitten in meinem Wohnzimmer.

Wie versteinert blieb ich im Flur stehen und starrte ihn an. Verdammt, was sollte ich tun. Ich konnte nicht wegrennen, da er mir den Weg versperrte, und zur Tür hinaus konnte ich auch nicht. Bis diese wieder aufgeschlossen wäre wär der Typ schon längst bei mir. Die Panik übermannte mich fast und ich zitterte immer mehr.

"Bitte bringen Sie mich nicht um."
Flehend sah ich in seine blauen Augen und ich merkte, wie sich Tränen in meinen sammelten.
Doch dieser Kerl machte nur ein verwirrtes Gesicht und sah mich fragend an.
"Warum sollte ich dich umbringen?"

Die erste Träne befreite sich nun aus meinem Auge und lief meine linke Wange hinab. Doch ich war zu versteinert als das ich es überhaupt bemerkte.
Der Verrückte mir gegenüber trat einen Schritt auf mich zu. Und sofort kam wieder Leben in meinen Körper und ich stolperte ein Stück zurück. Was war denn gerade mit mir losgewesen? Mein Überlebenswille meldete sich wieder als ich sah, dass er nun zielstrebig auf mich zu lief. Meine Wohnung ist zwar nicht sonderlich klein, aber eben auch nicht riesig. Noch ein paar Schritte und er war bei mir. Panisch sah ich mich nach etwas um, womit ich mich verteidigen konnte.
Auf dem kleinen Schrank neben mir stand eine Blumenvase mit blühenden Rosen, die meine Mutter mir gestern vorbeigebracht hatte.
Diese packte ich mit beiden Händen und schleuderte sie dem Typen entgegen. Sie zersplitterte an seiner Brust und hinterließ einen nassen Fleck, dennoch wurde er nicht langsamer. Ein Regenschirm und mein Schlüsselbund folgten der Vase, doch er zuckte nicht mal zusammen.
Sein Blick war starr auf mich gerichtet.

Jetzt ganz von der Angst eingenommen öffnete ich die Tür rechts von mir, stolperte ins Bad und knallte die Tür hinter mir zu.
Sofort wirbelte ich herum und riss das Fenster auf. Innerlich dankte ich Gott, dass ich beim Wohnungskauf unbedingt ein Bad mit Fenster wollte.
Es ging immernoch ein stürmischer Wind und meine braunen Haare wehten mir ins Gesicht.
Schnell strich ich sie zur Seite und schwang beide Beine aus dem Fenster.

Wenn ich es über den Vorsprung bis zur Feuerleiter schaffe...

Einmal holte ich noch tief Luft, dann setzte ich meine Füße auf den Vorsprung.
Mit den Händen hielt ich mich an der Hauswand fest und zog mich Schritt für Schritt voran. Ich litt zwar nicht unter Höhenangst aber dennoch versuchte ich die drei Stockwerke unter mir zu ignorieren.

"Tief durchatmen, du schafft das Ana", versuchte ich mir Mut zuzureden.
Hinter mir hörte ich das Geräusch von zersplitternden Glas. Ruckartig wand ich meinen Kopf zurück zu meinem Badezimmerfenster und sah gerade noch, wie einige Glasscherben nach unten fielen. Dann tauchte im Rahmen des nun zerstörten Fensters der Kopf meines Verfolgers auf. Als seine stechend blauen Augen meine trafen, war meine Ruhe mit einem Mal verschwunden und die Panik erfasste mich erneut.
Ich beeilte mich, schneller zur Feuertreppe zu kommen und verlor dabei kurz mein Gleichgewicht.
Mein rechter Fuß schnappte ab und ein kleiner Schrei löste sich aus meiner Kehle.
Adrenalin strömte durch meinen Körper. Mit den Händen zog ich mich wieder an der Hauswand empor und atmete erstmal tief durch.
Nach einem kurzen Blick zurück bemerkte ich, das dieser kranke Kerl nicht mehr im Fensterrahmen stand.

Okay, so weit, so gut.

Nach ein paar weiteren Schritten, die ich nun wesentlich vorsichtiger machte, kam ich am Wohnzimmerfenster meiner Nachbarin  vorbei. Hoffentlich schaut sie jetzt nicht raus und denkt, dass irgendeine verrückte, gestörte Person sich vor ihrer Wohnung das Leben nehmen will.
Doch jetzt eröffnete sich mir ein neues Problem. Wenn ich am Fensterbrett vorbei wollte, konnte ich mich nicht mehr richtig an der Hauswand festhalten.
Ich schaffe das, ich schaffe das.
Wie ein Mantra wiederholte ich diese drei Wörter immer und immer wieder.
Ich hatte gerade die Hälfte des Fensters geschafft, als sich plötzlich zwei Arme um meine Taille schlossen und mich mit einem Ruck nach hinten zogen.

Wieder konnte ich einen überraschten Aufschrei nicht unterdrücken.
Ich wurde losgelassen und herum gewirbelt. Und schaute geradewegs in zwei strahlend blaue Augen. Doch noch bevor mich die Panik erneut überkommen oder ich mir einen Fluchtplan ausdenken konnte, hob der Kerl seine Hand und legte sie auf meine Schulter.

Kurz wurde mir schwarz vor Augen und mein Magen schlug ein Salto, doch schon im nächsten Moment war es vorbei und ich konnte wieder etwas sehen.
Was war das denn?

Ich kniff meine Augen zusammen und sah um. Es war eindeutig ein Zimmer. Und es war eindeutig nicht mehr meine Wohnung.

Chosen [SPN]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt