Unpersönlich

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Stillschweigend lief ich neben O-Saft her. Eine Stille umgab uns, die so erdrückend war, dass niemand es wagte, sie zu durchbrechen. Etwas anderes hätte zu so einer Situation auch nicht gepasst. Diese Situation hatte ich doch schon mal erleben müssen.

In der dunklen Masse wurden wir fast verschluckt, gingen in ihr unter und suchten gleichzeitig Schutz. Mit gesenktem Blick und einem Brennen in den Augen folgten wir einfach nur dem schwarzen Paar Schuhen vor uns, ohne das Gesicht desjenigen zu kennen, der sie trug.

O-Saft krallte sich an meinem Arm fest, als wäre ich sein letzter Halt. Und in gewisser Weise stimmte das ja auch. Gefühlt hatte ich ihn noch nie so niedergeschlagen gesehen wie jetzt. Mein Blick richtete sich starr auf den Boden. Ich wollte keinen der Menschen hier ins Gesicht schauen, seit ich O-Safts tiefe Trauer in seinen wunderschönen Augen glänzen gesehen habe. Traurigkeit und Hilflosigkeit wurden jedem der hier Anwesenden ins Gesicht gemeißelt.

Doch O-Saft ist ruhig geblieben, hat keine einzige Träne vergossen, bis wir uns den ganzen Menschen angeschlossen hatten. Das ich noch nicht bitterlich weinte lag wahrscheinlich daran, dass ich die ganze Situation nicht richtig begriff und auch nicht verarbeiten konnte. Meine ganze Konzentration galt O-Saft, der sich verzweifelt an meinem Arm festhielt und stumm seine Tränen vergoss.

Die schwarze Masse blieb stehen und zum ersten Mal hob ich wieder den Blick. Wir waren vor dem großen Loch angekommen. Nicht sonderlich tief, aber ausreichend für seine Zwecke. Der hölzerne Kasten wurde in die trockene Erde hinab gelassen. Das Brennen in meinen Augen wurde stärker, meine Hand hob sich und strich fast wie automatisch über O-Safts verkrampfte Finger.

Ich wurde etwas beiseitegeschoben und neben mich stellte sich ein kleinerer Mann mit langem, dunkelbraunem Haar. Seine grünen Augen starrten ungerührt auf das Holz. Ich wandte meinen Blick wieder ab und schaute zurück auf den Kasten, nein, den Sarg.

Ein weiterer Tod, in so kurzer Zeit. Und obwohl ich eigentlich in gewisser Weise froh über seinen Tod hätte sein müssen, war ich es nicht. Denn auch wenn er mich für Dinge verantwortlich gemacht hatte, die gar nicht passiert waren, war er immerhin auch ein Freund von mir gewesen.

Schlingel hatte sich erhängt.

Ein Sprecher erzählte irgendetwas von Freitod und wünschte ihm ein angenehmes Leben nach dem Tod. Man merkte, dass er nichts über Schlingel wusste und auch sonst in keinster Weise je Kontakt zu ihm gehabt hatte. Es war Schade, dass es so unpersönlich war, ja fast schon, als würde sich der Sprecher über den Toten lustig machen.

Der Mann neben mir fing auf einmal auch an zu schluchzen. Ich sah wieder zu ihm herüber. Sein unpersönlicher Blick war einem trauergefüllten gewichen und obwohl er seine Hand vor den Mund geschlagen hatte, entwichen seiner Kehle immer wieder kleine Schluchzer.

Zwischenzeitlich murmelte er immer wieder etwas, das ich nicht eindeutig verstand. Doch er tat mir leid. Er hatte niemanden, der ihn tröstete.

„Maudado?", fragte mich O-Saft von der Seite mit kratziger Stimme und ich sah besorgt zu ihm. Seine Augen waren gerötet und seine Lippen fest zusammengepresst, als wolle er verhindern, dass er laut losweinte. „Ja?", antwortete ich und bemerkte dabei überrascht die Tonlosigkeit meiner Stimme.

„Ich möchte hier bitte schnell weg", murmelte er. Ich nickte und drängte mich mit ihm gemeinsam durch die Leute. Wir gingen wieder den grauen, endlos langen Gang hinab.

Und dann hörten wir Schritte. Eine Gruppe Therapeuten kamen auf uns zu. In mir verspannte sich alles und meine Atmung wurde automatisch schneller. Wieso jetzt? Wollen sie uns wegen des Ausbruchs bestrafen?

Panik kroch in mir hoch und ich drückte mich schutzsuchend näher an O-Saft.

Doch sie liefen einfach schnurstracks an uns vorbei, sahen uns noch nicht einmal an. Etwas verwirrt starrte ich ihnen hinterher. Abwartend blieb ich mit O-Saft auf dem Gang stehen. Es passierte nichts. Und als wir uns zum gehen abwenden wollten, kamen sie zurück, in ihrer Mitte der grünäugige Mann von vorhin. Sein Blick war starr auf den Boden gerichtet, seine Augen spiegelten Resignation.

Sie brachten ihn in die Versuchstrakte. Und somit kehrt wieder Alltag in die Anstalt ein.

Ich zog O-Saft weiter, bis in sein Zimmer. Er setzte sich, ohne seine schwarze Jacke auszuziehen auf die Schaukel. Lustlos starrte er auf den Boden. Ich zog meine Jacke aus und setzte mich, ohne ein Wort zu sagen, neben ihn.

Mit meinen Beinen schob ich uns mit der Schaukel ein bisschen vor und zurück. Eine Träne rann aus meinen Augenwinkeln. Schlingel war tot. Ich spürte, wie O-Saft meine Hand nahm. Seine Finger waren kühl. Wieder umhüllte uns Stille, in der wir leicht nach vorn und nach hinten schaukelten.

„Das war GLP", sagte O-Saft in die Stille. Erst verstand ich nicht was er meinte, da er mich plötzlich aus meinen Gedanken gerissen hatte. Doch dann begriff ich, dass er den Mann mit den grünen Augen meinte, den die Therapeuten mitgenommen hatten. Ich nickte langsam. „Er hatte geweint, als er am Grab stand", fügte ich hinzu. O-Saft zuckte teilnahmslos mit den Schultern.

„Was hast du eigentlich in der Zeit gemacht, in der du bei GermanLetsPlay warst?", fragte ich ihn nach einer Weile. Es war vermutlich wohl der unpassendste Zeitpunkt den ich je wählen konnte, aber ich wollte mich, abgesehen davon, dass es mich wirklich interessierte, von meinen Gedanken ablenken.

„Als ich aufgewacht bin hab ich mit ihm geredet. Er hat mir etwas erzählt, vieles sogar. Er könnte uns helfen", murmelte O-Saft abwesend. Dann sah er zu mir. „Wobei denn helfen?", fragte ich ihn und sah ihn stirnrunzelnd an.

„Hier auszubrechen", sagte O-Saft und kurz huschte ein gefährliches, verrücktes Glitzern durch seine schönen Augen.



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