Kapitel I

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Es war noch hell draußen. Das leerstehende Haus hatte die Fenster nach Norden hin ausgerichtet; das hieß am Abend würden die Zimmer nicht mehr vom Sonnenlicht beleuchtet sein. Wir mussten uns beeilen. In der Dunkelheit war es gefährlich, durch unbekannte Straßen und Häuser zu ziehen. Sie konnten zu jedem Moment auftauchen und uns eiskalt erwischen.

Ich öffnete sämtliche Schränke und durchstöberte alle Schubladen. Konserven und anderes essbares Zeugs landete mit schnellen Handgriffen in meinem Rucksack. Ich nahm sogar einige volle Dosen Katzenfutter mit. Das war manchmal besser, als gar nichts zu haben. Und in der Not fraß der Teufel für gewöhnlich Fliegen.

Ein Geräusch ging durch das ganze Haus und ließ mich innehalten. Es hatte sich angehört, wie ein umgekippter Gegenstand, der auf den Holzboden gekracht war. Ich war mir ziemlich sicher, dass der Lärm vom oberen Teil des Hauses gekommen war. Angespannt schnallte ich mir den Rucksack auf den Rücken und hob den Baseballschläger vom Boden auf, dort wo ich ihn bei meinem Eintreffen in der Küche hingelegt hatte. Immer in Griffbereitschaft.

Ich umklammerte meine Waffe mit beiden Händen und hielt sie über meine rechte Schulter gelehnt, sodass ich jeden Moment ausholen und zuschlagen konnte, falls nötig. Meine Handflächen waren mit Stoff umwickelt, da ich mir bereits öfters Blasen mit dem blöden Ding zugezogen hatte. Leider war der Schläger überlebensnotwendig.

Die Holzdielen knarrten unter meinem Gewicht, als ich mich langsam der Treppe näherte. Die weiße Farbe blätterte bereits vom Geländer ab und eine dicke Staubschicht hatte sich über alles gelegt. An den Wänden hingen vier eingerahmte Fotos, auf denen immer das gleiche Paar posierte. Auf fast allen lächelten sie den Betrachter an. Auf dem letzten Foto hielt die brünette Frau ein Baby im Arm, dem all ihre Aufmerksamkeit galt. Das Glas an diesem Bild war gebrochen und es hing schief an der Wand. Als ich es mit meinen Fingern streifte, fielen mir die feinen Blutspritzer auf dem Rahmen auf. Das erinnerte mich wieder an das unbekannte Geräusch und ließ mich wachsam werden. Ich hatte keine Zeit, um einen Gedanken daran zu verschwenden, was sich mit den Besitzern des Hauses vielleicht hier abgespielt hatte. Jetzt war ohnehin niemand mehr hier, den es kümmerte.

Meine Muskeln spannten sich an, mein Herz klopfte laut, meine Augen konzentrierten sich auf meine Umgebung. Auf leisen Sohlen erreichte ich das Obergeschoss und schlich weiter durch den Gang auf eine nur angelehnte, weiße Tür zu. Ich hatte das ungute Gefühl, dass sich etwas dahinter verbarg, etwas Lebendiges. Oder vielleicht auch etwas Totes.

Meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt und ich hielt den Atem an. Ich streckte meine linke Hand ganz langsam aus, um die Tür zu berühren und aufzustoßen. Doch noch bevor meine zitternden Fingerspitzen das verflixte Ding streifen konnten, wurde die Tür mit einem Ruck von innen aufgerissen und gab den Blick auf meinen kleinen Bruder frei.

„Verdammt, Benjamin! Musst du mich so erschrecken!" Mit einem Mal fiel die ganze Anspannung von mir ab.

„T'schuldigung. Aber du hättest dir ja merken können, wo ich hingehe."

Mit diesem Worten stolzierte mein Bruder an mir vorbei den Gang entlang.

„Tut mir leid, dass ich nicht durch Wände sehen kann!", fuhr ich ihn an.

„Entschuldung angenommen."

##

Mit einem dumpfen Krachen schloss sich die Eingangstür hinter uns. Die Straßen waren menschenleer. Überall lag Müll und Laub herum, es kümmerte niemanden mehr. Die Häuser waren verwahrlost, die Gärten ungepflegt und das Unkraut wucherte durch die Schlaglöcher.

„Komm, Benny. Wir müssen uns beeilen." Ich drückte ihn an seinem Rucksack vorwärts und verfiel selbst in Laufschritt. Die Sonne würde bald untergehen und bis dahin mussten wir an einem sicheren Ort sein. An unserem Ort.

Unsere Schritte hallten an den Häusern wider und waren für eine Weile die einzigen Geräusche, die wir hörten. Alles war gut, solange kein Ächzen und Stöhnen von irgendwelchen Straßenecken zu uns drangen.

„Lauf, lauf, lauf!", flüsterte ich Benny zu, damit er nicht langsamer wurde. Ich bog um die Ecke, den Baseballschläger immer bereit in der Hand, und verfluchte das getrocknete Laub auf den Straßen, das bei jedem unserer Schritte laut knisterte. Sie wurden von Geräuschen angezogen wie Motten vom Licht. Nur noch zweimal rechts abbiegen, dann waren wir da.

Wir stockten. Am Ende der Straße war einer von ihnen. Genau in unserem Garten. Er hatte wohl Baileys im Haus gehört und kratzte jetzt an den Fenstern, die wir mit Holzbrettern verbarrikadiert hatten. Dass der Köter auch immer Lärm machen musste!

„Bleib hinter mir!", zischte ich. Mit einer Hand hielt ich Benny zurück und schlich so leise wie möglich auf unser Haus zu. Vor dem Gartentor angekommen, bedeutete ich meinem Bruder stehen zu bleiben und zu warten, bevor ich das Gitter langsam aufschob. Natürlich quietschte es heute besonders laut. Es hatte mich gehört und sich von den Fenstern weggedreht. Ein Paar toter Augen starrte mich an. Die Wangenknochen der Kreatur traten deutlich unter einer schwarz schimmernden Haut hervor. Ein Stück der rechten Wange fehlte und gab den Blick auf das faulige Gebiss frei. Der Körper war so entstellt, dass ich nicht einmal erahnen konnte, ob es sich früher um eine Frau oder um einen Mann gehandelt hatte. Die Zähne schlugen klappernd aufeinander. Auf wackeligen Schritten kam der Zombie näher. Ich sammelte meinen Mut und lief dann auf ihn zu. Kurz bevor ich ihn erreichte, holte ich mit dem Schläger aus und schlug dem Untoten mit all meiner Kraft den Kopf zu Brei. Es knackte kurz, dann spritzte Gehirn und Blut und was weiß ich noch alles auf die hellblaue Fassade unseres Hauses. Der Zombie fiel ohne Weiteres um und blieb liegen, so wie ein Toter es ursprünglich zu tun pflegte. Ich wischte mir mit dem Ärmel über die Stirn und ging dann zurück zu meinem Bruder. Er sah mich ausdruckslos an; die Brutalität schockte ihn schon lange nicht mehr.

„Lass uns reingehen." Ich nahm ihm den Rucksack ab und schritt durch den Vorgarten auf die Eingangstür unseres Hauses zu. Wenn wir genug Essbares gesammelt hatten, mussten wir wenigsten die nächsten Tage nicht mehr raus und waren vorerst in Sicherheit.

Drinnen wurden wir schon sehnsüchtig von Baileys erwartet. Der hellbraune Hund streifte mir um die Beine. Ich fischte eine alte Keksdose aus meinem Rucksack und warf ihm einen Keks zu. Das Gebäck war zwar alt und hart, aber für den Hund reichte es allemal.

Im Haus war es dunkel, die Holzbretter vor den Fenstern ließen nicht viel Sonnenlicht herein und der Strom ging schon eine ganze Weile nicht mehr.

„Machst du ein paar Kerzen an, Benny?" Ich ging in unser Wohnzimmer und verstaute die Rucksäcke in einem alten Holzschrank, der inzwischen der Stauraum für unsere Vorräte geworden war. Mein Bruder lief nach oben in sein Zimmer, wo die Kerzen lagen.

Es kam mir vor, als würden wir schon eine Ewigkeit so leben. Dabei war es nicht einmal ein halbes Jahr her, dass ich noch wie jedes andere Mädchen normal zur Schule gegangen war. Wenn ich nur daran dachte, wie viel Angst ich vor den Abschlussprüfungen gehabt hatte. Lächerlich im Vergleich zu dem, was die Menschen heute alles fürchten mussten.

Mein Bruder kehrte mit den verlangten Kerzen zurück. Ich zündete sie an und verteilte sie im ganzen Raum, sorgfältig darauf bedacht, dass sie nirgendwo standen, wo sie leicht Vorhänge oder andere Dinge in Brand setzten konnten. Dann setzte ich mich in den Schneidersitz auf den Boden. Benny setzte sich neben mich und ich strich ihm beruhigend durch die Haare. Er lehnte sich an mich, wie er es früher manchmal bei Mom gemacht hatte. Aber Mom gab es nicht mehr.

Ich legte ihm beschützend den Arm um die Schulter. Manchmal schlief er ein, wenn ich das tat. Und Schlaf war das einzige, das ich ihm heutzutage noch bieten konnte.

Die Sonne senkte sich dem Horizont zu und schon bald würde das Dorf in Dunkelheit getaucht sein. Dann würden die Zombies durch die Straßen streifen und ich würde bei jedem Stöhnen und Ächzen, das unserem Haus zu nahe kam, zusammenzucken und angespannt hinter der Tür auf ein Eindringen der Monster warten, um das einzige zu beschützen, das ich noch hatte. Meinen Bruder.



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