Kapitel VII

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Es ist wieder einmal später geworden, als erwartet. Aber im Frühling ist es anders als im Winter um neun Uhr abends noch hell draußen. Eigentlich hätte ich schon vor Stunden zu Hause sein müssen, um für den Test morgen zu lernen.

Dann werde ich mich wieder einmal ins Haus schleichen müssen, um Mom und Dad nicht zu begegnen. Ich habe es so satt, mich immer vor ihnen zu rechtfertigen. Sie haben kein Recht, sich in mein Leben einzumischen, es war schließlich mein Leben.

Ein Geräusch durchschneidet die Stille auf der Straße. Ich ziehe mir den Kopfhörer aus dem Ohr und bleibe überrascht stehen, um zu lauschen.

Da ist es wieder. Ein Schrei. Ganz in der Nähe.

Ich laufe um die Ecke, um nachzusehen was passiert ist. Schon von weitem sehe ich das Mädchen auf dem Gehweg liegen. Ich kenne sie aus der Schule. Sie ist ein paar Jahrgänge unter mir, ihren Namen kenne ich nicht. Sie scheint mit einem Mann zu ringen. Ich renne auf sie zu. Ihr Angreifer lässt sich nicht von meinen sich nähernden Schritten beirren.

Von nahem erkenne ich, dass es sich höchstwahrscheinlich um einen Obdachlosen handelt, der Kleidung nach zu urteilen. Das Mädchen drückt ihn an den Schultern von sich weg, aber er hat sich mit seinem ganzen Gewicht auf sie gestürzt und gibt komische Geräusche von sich, als bekäme er keine Luft. Vielleicht hat er einen Anfall und hat das Mädchen umgeworfen.

Als ich sie erreiche, ziehe ich den Mann von ihr runter. Er stürzt auf den Boden. Ich schenke ihm vorerst keine Beachtung und knie mich neben das Mädchen, um zu sehen, ob es ihr gut geht. Sie hat die Augen geschlossen und windet sich in langsamen Bewegungen, als hätte jemand ihr Drogen injiziert.

„Hey." Sie reagiert nicht auf meine Stimme. Ich versuche es wieder: „Hey!"

Als sie immer noch keine Anstalten macht, mir zu antworten, überwinde ich meine Bedenken und schlage ihr auf die Wange. Immer noch nichts. Sie liegt nur da und dreht den Kopf hin und her.

Ich entscheide mich dazu, sie vorläufig liegen zu lassen und meine Aufmerksamkeit dem Obdachlosen zu widmen. Doch der ist schon von allein aufgestanden. Jetzt erst erkenne ich den irren Blick in seinen Augen und das ganze Blut, das ihm von den Lippen tropft. Sein ganzes Kinn ist damit beschmiert, wie bei einem Kleinkind, das Spaghetti isst.

Ich weiche instinktiv vor ihm zurück, doch zwinge mich dann dazu, stehen zu bleiben. Der Mann könnte innere Blutungen haben und meine Hilfe brauchen.

„Ist alles in Ordnung mit Ihnen?", frage ich etwas unsicher. Er steht nur da und starrt mich an. Ein Knurren kommt aus seiner RKehle und lässt mich nervös die Stirn in Falten legen. Dann setzt er sich in Bewegung und kommt auf mich zu getorkelt. Sein Blick ist an mich geheftet, er scheint nichts um ihn herum mehr wahrzunehmen. Ich gehe vorsichtig ein paar Schritte rückwärts. Der Obdachlose stolpert beinahe über das Mädchen, das immer noch auf dem Boden liegt, schenkt ihr aber keine Beachtung. Seine Schritte werden schneller. Ich glaube, in seinem rechten Auge ist eine Ader geplatzt, weil es sich plötzlich ganz rot färbt. Der Mann röchelt, kommt aber unbeirrt weiter auf mich zu.

„K-kann ich Ihnen irgendwie helfen?"

Als Antwort steigert der Mann seine Geschwindigkeit, bis er mich erreicht und seine Hand an meinem Jackenärmel festkrallt. Ich bleibe wie erstarrt stehen und stiere ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Sein Gesicht nähert sich meiner Schulter, sein Mund weit aufgerissen. Ich versuche, mich aus seinem Griff zu winden, doch er hält mich nur noch verkrampfter fest. Dann knallt ihm eine Eisenstange gegen den Kopf.

Sofort lockert sich sein Griff, ein feiner Blutspritzer spritzt mir auf die Stirn. Der Obdachlose fällt tot um. Ich stehe entsetzt da, unfähig mich zu rühren und panisch nach Luft schnappend. Ich habe sein Blut in meinem Gesicht! Ihm wurde soeben eine Eisenstange gegen die Schläfen geknallt und jetzt habe ich sein Blut im Gesicht!

MolotowcocktailWo Geschichten leben. Entdecke jetzt