Erwartungen

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Wie ein wütendes trotziges Kind hatte sie reagiert. Sie hatte den Aktenordner auf den Tisch geschlagen und laut aufgeschrien. Jetzt schämt sie sich dafür. Sie schämt sich so reagiert zu haben, wie sie es alle erwartete hatten. All diese Männer mit ihren langen Bärten und weisen Augen und all diesen Frauen mit ihren Bleistiftröcken und streng zurück gebundenen Haaren hatten die Augenbrauen gehoben und geseufzt. Sie hatte sich selber Lügen gestraft, weil sie ihnen bewiesen hatte, dass sie wahrscheinlich zu jung für das alles war. Aber ihr Vater hatte an sie geglaubt und ihre Mutter hatte sie noch an ihrem Krankenbett unterrichtet. Sie ist geschaffen für all das. Sie muss es sein.

 "Raus!", sagt sie ruhig. "Gehen sie bitte hinaus." Und einer nach dem anderen schiebt leise den Stuhl über den Teppichboden nach hinten, legt seine Sachen zusammen und geht durch die Tür, die ihnen von zwei Männern im schwarzen Anzug geöffnet wird, hinaus. Die junge Frau legt die Hände vor ihr Gesicht und atmet laut aus, als sie auch die letzten Schritte auf der Treppe im Flur verklingen hört.

"Ma'am, kann ich ihnen etwas bringen?", fragt einer der Diener. Sie dreht sich um und scheuert ihm eine. "Geh hinaus, sagt." ich. "Ich will alleine sein." Er schaut sie ausdruckslos an, sagt nichts dazu, dass sie ihn geschlagen hat, weil er es so gelernt hat. Er muss dienen, egal was. So begleicht er seine Schulden, seine Vergehen oder hat einfach so beschlossen ein solches Leben zu führen.
Sie kann sich nicht vorstellen, wie ein Mensch eine solche Entscheidung freiwillig treffen könnte.

Und so verlässt er auch den Raum, gefolgt von seinem Partner. Sie lässt sich langsam auf einen der Stühle sinken. Es war ein langer Tag, gefüllt mit anstrengenden Meetings und zu kurzen Pausen. Als sie sich jetzt in dem Spiegel an der Wand erblickt, da sieht sie das kleine Mädchen vor sich, dass weinte, als ihre Mutter starb und lernte dies nicht zu tun, als auch ihr Vater von ihnen ging. Es war nicht dieselbe Krankheit, die ihn von ihr weggerissen hatte, so wie sie es den Medien glaubhaft gemacht hat. Es waren die Rebellen, die in ihr Haus eindrangen und ihn vor ihren Augen erschossen. Drei Jahre ist es her und sie sieht noch das Gesicht von ihm vor sich, wie er einen Finger auf die Lippen legt - ganz kurz nur -, damit sie nicht merkten, dass sie da noch unter dem großen Bett lag und alles mitverfolgte.

Doch einer von ihnen muss es gewusst haben. Er kannte sie - gut. Und trotzdem ließ er zu, dass sie ihren Vater stundenlang folterten und töteten, obwohl sie doch auf der Seite der Rebellen stand. Sie hatte ihn so gut gekannt und trotzdem hatte er ihr mit einem Messer in den Rücken gestochen, genau in dem Moment, indem sie dachte, dass sie ihnen vertrauen konnte.

Seither hatte sie nie wieder so etwas dummes gedacht.
Seither konnte sie auch keinem mehr vertrauen, denn nach dem Tod ihres Vater, hatte man sie zum führenden Kopf gemacht. Sie musste nun Meetings durchhalten, über die schon ihr Vater immer geklagt hatte. Und sie musste nun Entscheidungen treffen, die er früher abgelehnt hätte, weil sie zu grausam gewesen waren. Und deswegen musste sie nun alle Gefühle Tag für Tag abstreifen, damit sie gnadenlos sein konnte. Denn sie hatte früher geliebt und konnte es sich nicht leisten, dass genau diese Tatsache ihr die Rache an allen nahm, die daran Schuld waren, dass sie nun hier still Tränen vergießt.

Genau aus diesen Gründen, war sie teils verängstigt und teils freudig erregt, als sie hörte, dass es erneut Anzeichen von Rebellen in der Stadt gab. Sie ruft einen der Diener herein, lässt sich einen Zettel und einen Füller reichen und schreibt eine kurze Nachricht an sich selber. Es ist der Plan, den sie hat - der ihr durch den Kopf gezuckt war, als sie so da saß. Er ist gut und schrecklich. Und weil vor der Tür wieder Leute für das nächste Meeting warten, muss sie ihn aufschreiben, damit er ihr in den nächsten Stunden nicht entgleitet. Sie muss nun stark sein, weil es erwartet wird. Sie muss nun gnadenlos sein, weil es von ihr erwartet wird. Sie musste nun erwachsen sein, weil es von ihr erwartet wird.

In diesem Moment fühlt es sich gut an die Böse zu sein, weil es bedeutet mächtig und stark zu sein - genau das, was ihr Vater in diesem Moment von ihr erwartet hätte - aber am Abend, als sie abgeschminkt und nackt in ihrem Bett liegt, überkommt sie wieder diese Reue, weil sie eigentlich nicht so ist - und nie so sein will.



My GhostsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt