15↠ facade

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Als Luke neben mir verschwunden ist, hatte ich für einen Moment das Gefühl, dass mir ein Teil in mir weggenommen wurde, und nur noch Kälte an dieser Stelle zurückgeblieben ist. Doch ich wurde wieder in die Realität gerissen, als Sarah aus dem nichts aufsprang und auf mich losging.

Bevor ich überhaupt etwas tun konnte, hat sie mich auf den Boden geschmissen und legte sich so über mich, dass ich keine Chance hatte, mich überhaupt zu wehren. Sie schien sehr aufgewühlt zu sein und musste sich erst etwas entspannen, bevor sie irgendwas sagen konnte. Ich hatte keine Angst um ehrlich zu sein. Viele andere hätten nur schon wegen ihren hässlichen Krallen und ihrer krassen Ausstrahlung einen kalten Schauer über den Rücken bekommen. Ich habe noch nie Schwäche gezeigt vor Sarah, und ich würde es auch nie, ansonsten würde sie keine Probleme damit haben, mich runter zu machen. Sie wusste es auch, mich konnte man nicht fertig machen. Doch trotzdem versuchte sie es gerade, mit ihrem krankmachenden Blick, vor dem jeder Angst haben würde.

"War das abgesprochen?", wisperte sie mir zu, "hattest du vor, Larissa dazu anzustiften mich umzubringen?"

Ich lachte auf und versuchte diese klassische Tussisprache zu imitieren: "Schätzchen, wir sind hier in der Realität. Für wie wahrscheinlich haltest du es, dass genau ich, diese Person die dich kaum beachtet, sich deinen Tod wünscht? Und vor allem, wie kommst du drauf, dass ich irgendetwas mit dieser Sache zu tun habe?"

Sie schnaufte auf und versuchte sich etwas zu beruhigen. Unser Umfeld war noch ziemlich mit Larissa beschäftigt, also beachteten sie uns kaum.

"Eigentlich bin ich kein tiefgründig denkender Mensch, aber was ich vorhin gefühlt und gesehen habe, kann ich einfach nicht ignorieren.", sagte sie erst ziemlich wütend, bis zum Schluss, an dem sie immer verzweifelter Klang.

Ihre Augen hörten plötzlich auf so intensiv in meine zu blicken. Daraufhin blickte sie auf einmal total gedankenversunken irgendwo hin, ging von mir runter und kniete sich neben mich.

Ich richtete mich langsam auf und versuchte wieder den Augenkontakt aufzubauen. "Sarah", sagte ich mit so viel Ruhe, wie es mir möglich war, "was genau hast du gesehen?"

Sie kaute an ihrer Unterlippe herum und ihr Blick war immer noch von mir abgewendet. Ganz Gedankenversunken sagte sie mit kratziger und leiser Stimme: "Als ich da unten lag, habe ich nach oben geschaut, weisst du, gehofft dass mir irgendwer helfen könnte. Niemand hat sich nach vorne getraut, und Larissa...es ist doch nicht normal was da mit ihr passiert ist. Ihre Augen hatten sich dunkler verfärbt und es war, als würde sie nichts mehr als Hass erfüllen. Auf jeden Fall waren die meisten in Panik und total aufgewühlt, doch du, du warst die ruhe in Person. Du hast irgendwo ins nichts geschaut gehabt, als wäre es kein Wunder, dass das ganze hier passiert ist. Ich kann es mir irgendwie einfach nicht erklären."

"Ich leider auch nicht.", sagte ich und schnaufte seufzend aus.

Daraufhin blickte sie mir in die Augen und meinte, mit einem Hauch von einem Lächeln: "Du hast nur nichts mit der Sache zu tun. Es tut mir Leid, doch mein Verstand ist manchmal einfach viel zu stur. Mein Kopf hat schon fast geschrien, dass alles deine Schuld gewesen wäre. Ich kann wirklich sehr naiv sein. Schon so naiv, dass ich mir selber jeden Scheiss glaube. Ich möchte mich von ganzem Herzen bei dir entschuldigen. Vielleicht hat diese ganze Geschichte ein wenig in mir ausgelöst. Weisst du, ich war irgendwie immer so gemein gegenüber anderen, dass sie Respekt vor mir haben. Dass sie alle das Gefühl haben, ich wäre kalt, dass sie mich nicht verletzen können oder sehen können wie kaputt ich bin und mit wie vielen Problemen ich eigentlich zu kämpfen habe. Die kleinsten Probleme habe ich nun mal an Larissa ausgelassen, um zu zeigen, dass mein Leben doch so makellos ist, obwohl einfach nichts in Ordnung ist. Aber ich möchte dich hier nicht belasten. Du bist doch selber schon genug kaputt."

"Woher weisst du das?", ich musste schlucken. Was sie gesagt hatte, musste ich erst verarbeiten. Hinter die Fassade anderer Menschen zu blicken war irgendwie nie meine Stärke gewesen.

Sie lächelte leicht auf und sagte mit ihrer sanften und ruhigen Stimme: "Weisst du, jeder denkt du wärst das kalte und starke Mädchen. Doch die Gefühle, die du versuchst zu verdrängen, widerspiegeln sich in deinen Augen. Es bemerkt nur Keiner, weil sie sich versuchen an dem Gedanken festzuklammern, dass du kalt bist und Punkt. Nun ja, ich sollte vielleicht mal zu Larissa gehen."

Sie wollte gerade aufstehen, als ich sie an ihrem Handgelenk zurückzog. "Warte", sagte ich ihr und zog sie in eine sehr lange Umarmung.

Auch wenn ich dabei nichts fühlte, wusste ich, dass sich gerade Millionen von Gefühlen in mir rumtobten. Doch meine Mauern in mir, die jegliche Gefühle und Wärme absperrten, liessen es nicht zu.

Nach einer halben Ewigkeit lösten wir uns von einander und lächelten uns noch kurz an, bevor Sarah aufstand und zu Larissa lief. Diese war immer noch völlig hasserfüllt und komplett aggressiv. Louis war gerade damit beschäftigt sie so halten, dass sie nicht weg konnte. Larissa versuchte sich mit aller Kraft aus seinem Griff zu befreien und gestikulierte ganz wild mit jeder Faser ihres Körpers rum, was ihr natürlich nichts brachte, da Louis einfach zu stark für sie war.

Als sie Sarah erblickte, wurde sie nicht wirklich ruhiger. Ganz im Gegenteil, sie fing an komplett auszuflippen. Sarah wusste, dass es wirklich kein Spass mehr war, doch sie näherte sich ihr immer mehr. Sie versuchte erst ganz intensiv Augenkontakt zu Larissa aufzubauen. Doch als sie bemerkte, dass dies nichts brachte, fing sie an sich umzuschauen. Die Situation hatte sich etwas beruhigt, die Menschen rundherum waren wieder etwas verteilt und beschäftigt mit sich selber. Die Türe war mittlerweile auch wieder offen. Viele verschwanden nach und nach aus dem Mensaraum.

Irgendwann waren nur noch Larissa, Sarah, Louis und ich im Raum. Larissa hatte sich mittlerweile schon ziemlich beruhigt und hängte regelrecht in Louis Armen. Das ganze Rumgestikulieren hatte sie wohl ziemlich müde gemacht.

Sarah hatte öfter versucht ihr etwas zu sagen, doch Larissa hatte sie daraufhin nur mit rumkreischen unterbrochen. Jetzt schien sie ziemlich erschöpft zu sein und ergab sich erst Louis, indem sie sich nicht mehr wehrte. Daraufhin sagte sie, ohne vom Boden aufzublicken und relativ hasserfüllt: "Was willst du?"

"Hör zu", fing Sarah ruhig an, "ich weiss dass ich Fehler gemacht habe, und es überhaupt nicht zu verzeihen ist. Ich bin eine innerlich gestorbene Person und habe nach einer gewissen Zeit eine Mauer um mich angefangen zu bauen, um mir Respekt zu schaffen, indem ich zeige, dass mich keiner brechen kann. Es ist eine sehr lange Geschichte und auch sehr tiefgründig. Ich weiss, mir kann man das nicht wirklich glauben, aber ich weiss nicht, vielleicht könnten wir echt zusammen irgendwo hin und in Ruhe darüber reden?"

Larissa hob ihren Kopf und schaute verdammt skeptisch. "Wieso sollte ich dir glauben?", fragte sie in einem Tonfall, als ob man jemandem ins Gesicht spucken würde.

Ich schaute zu Sarah und sah Tränen in ihren Augen. Zum ersten Mal sah ich ich, wie verletzt sie eigentlich war. Wie viel Schmerz da war, ohne dass es irgendwer bemerkt hatte, und sie immer versteckt hatte.

Daraufhin blickte ich zu Larissa und sie blieb eine sehr lange Zeit einfach nur ruhig, bis ihre Augen auf einmal wieder heller wurden. Sie schüttelte ihren Kopf, als ob sie etwas wegschütten wollte und legte Louis Hände vorsichtig von ihrem Bauch weg. Danach schaute sie Sarah eine lange Zeit intensiv in die Augen und lief mit langsamen Schritten auf sie zu. Als sie vor ihr stand fing sie auf einmal an zu schluchzen und riss Sarah in eine feste und herzvolle Umarmung. Sie vergruben ihre Köpfe gegenseitig in die Schulter der anderen und blieben so stehen.

Ich gab Louis ein Zeichen, dass wir hier nichts zu suchen hatten und lief aus dem Raum raus. "Krass was so auf einmal aus Menschen werden kann.", meinte Louis aus dem nichts. Ich nickte dabei nur.

Auf eine Seite hatte er total Recht, doch er sah eine andere Perspektive, wie sie eigentlich war. Er dachte, sie hätte sich gerade komplett geändert, dabei war das nicht so. Sie hat es gerade geschafft aus ihrer Mauer auszubrechen, die sie nach all der Zeit aufgebaut hatte. Sie hatte es gerade geschafft ihr wahres Ich zu zeigen. Dafür bewunderte ich sie wirklich. Doch eine Erkenntnis zog ich aus dieser Geschichte. Die Fassade von so ziemlich jedem Menschen war komplett anders, als es die meisten Menschen sehen. Einige sehen besser dahinter, andere schlechter. Ich gehörte zu dieser Sorte Mensch, die es so ziemlich gar nicht konnte. Eigentlich würde ich zu der Sorte gehören, die es sogar ziemlich gut können könnte, doch solange ich nicht hinter meine eigene Fassade blicken, und aus meiner Mauer ausbrechen könnte, würde ich es nie bei anderen Menschen können.

hatearrow | aus Liebe wird Hass.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt