1. Meine "Familie"

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"Bis nachher. Und nicht vergessen ich rufe dich an".
Ich winke Nick noch einmal und sehe zu, wie er auf seinem Fahrrad davon fährt bevor ich in den Bus steige.
"Ticket?", blafft mich der Busfahrer an.
Panisch ziehe ich mein Portemonaie aus der Tasche. Dabei löst sich der Reißverschluss und mein ganzes Kleingeld breitet sich über den Boden aus. Schnell sammle ich alles wieder ein.
Als ich mich aufrichte um dem Busfahrer mein Ticket zu zeigen, höre ich ein paar leider viel zu vertraute Stimmen.
"Hübscher Hintern, Ally."
"Leute, ich wette es traut sich keiner den anzutouchen."
Ich zeige nebenbei dem Busfahrer mein Ticket und versuche meine Wut unter Kontrolle zu bekommen, um ihm keine zu knallen. Das einzige was ich noch weniger gebrauchen kann, ist mich vor der ganzen Klasse in einen Grizzly zu verwandeln (ich glaube ein Hamster käme aber auf's gleiche raus). Stattdessen versuche ich es mit Worten. "Mach besser den Mund zu, es kommt ja eh nur Scheiße raus."
Schuldbewusst zieht er den Kopf ein.
Um mich herum brüllt so ziemlich jeder Junge aus meiner Klasse vor lachen.
"Haha, so lustig oder? Ihr seid doch auch nicht besser als dieses bemitleidenswerte... häufchen Elend."
Nun lacht niemand mehr.
Stolz gehe ich zu meinem Stammplatz und warte darauf, dass der Bus endlich losfahren kann.
Die Busfahrt verläuft schweigend. Ich liebe es, wenn mal niemand fertig gemacht oder ausgelacht wird.
An meiner Station steige ich aus und merke wie alle mich anstarrten, aber das ist mir egal.
Als der Bus außer Reichweite ist, sehe ich mich noch einmal um. Niemand da. Gut. Es sind noch 15 km bis zu meinem Haus im Wald.
Meine Mutter wollte unbedingt, nachdem mein Vater gestorben ist, in den Wald ziehen.
Ich finde es echt praktisch, so kann ich mich verwandeln ohne das es jemand sieht.
Ich laufe noch ein paar Meter in den Wald, bevor ich meinen Ranzen auf den Boden stelle, flink aus meinen Klamotten schlüpfe und an eine wunderschöne junge Fuchsstute denke. Plötzlich spüre das vertraute kribbeln unter der Haut und finde ich mich auf allen Vieren wieder. Ich schnappe nach meinem Ranzen und trabe gemütlich mit ihm im Maul nach Hause.
Zehn Meter vor meinem Haus verwandle ich mich wieder in einen Menschen. Ich hole meine Kleidung aus dem Ranzen und ziehe mich wieder an.
An meinem Haus angekommen klopfe ich dreimal lang und einmal kurz.
Eigentlich ist unser Haus total schön mit der alten gelben Fassade, die langsam anfängt abzublättern. Das Efeu klettert auch schon dran, aber leider weiß niemand außer mir und Nick das wirklich zu schätzen, denn alle meine Freunde und meine Familie, wollen das Efeu abreißen und das Haus neu streichen. Ich bin froh, dass es noch nicht so weit gekommen ist.
Mein Bruder öffnet mir die Tür. "Passwort?", fragt er mich mit seiner niedlichen Kinderstimme.
"Och Miles, das änderst du doch jeden Tag."
"Du musst raten sonst darfst du nicht rein." Er beginnt langsam die Tür zu schließen.
In Wahrheit ist es jeden Tag das gleiche, aber da sonst niemand mit ihm dieses Spiel spielt mach ich es.
"Warte. Ist es Weißbrot?"
"Nein!"
"Oder vielleicht... PUDDING???"
"Jaaa", lachend rennt er ins Haus und ich hinterher.
In seinem Zimmer hab ich ihn schließlich und kitzle ihn, bis er mich um Gnade anfleht.
Das ist also mein kleiner Bruder Miles. Er ist fünf Jahre alt.
Ich wende mich gerade Richtung Tür, als ich sehe wer uns vom Türrahmen aus beobachtet hat. Maddy.
Sie ist meine ältere Schwester und siebzehn.
"Du bist so kindisch, Ally. Werd' endlich mal erwachsen."
"Wenn erwachsen werden heißt, so hochnäsig zu werden wie du, bleib ich lieber Kind" , feuere ich zurück, quetsche mich an ihr vorbei und gehe ins Wohnzimmer bevor sie etwas erwidern kann.
Im Wohnzimmer sitzt meine Mum und liest Zeitung.
"Hallo Liebling, einen schönen Tag in der Schule gehabt?"
"Ja, war eigentlich ganz ok."
Das ist also meine Mum. Sie ist 36 und mein Dad ist seit vier Jahren tot. Mum sagt es zwar nie aber das hat ihr schwer zu schaffen gemacht. Wie uns Kindern eigentlich auch, ok, bis auf Miles. Der hat unseren Dad ja nie kennengelernt.
"Hast du schon was zu Essen gemacht?"
"Ach du liebe Güte, nein. Das habe ich total vergessen." Panisch lässt sie die Zeitung fallen, rennt in die Küche und öffnet (vermutlich die erst beste) Dose und schüttet sie in den ersten (wieder besten) Topf, den sie sieht.
"Mum beruhige dich. Es ist doch erst halb drei." Ich sehe zu wie ihre Augen zuerst ungläubig riesig werden und danach wieder auf normale Größe schrumpfen. Mit einem seufzen lässt sie ihre angehaltene Luft entweichen. "Ach Liebling sag das doch gleich." Sie hebt den Topf an um -baaah- Linsensuppe die schon DREI Monate überfällig ist, in den Müll zu kippen. Die sieht definitiv nicht mehr essbar aus.
"Sorry", murmle ich während ich durch die Terrassentür schlüpfe. Draußen atme ich erstmal tief durch. Meine Mutter ist schon ziemlich zerstreut. Wenn ich das essen nicht erwähnt hätte, hätte sie heute gar nicht mehr dran gedacht und morgen vermutlich auch nicht.
So schnell ich kann renne ich über die Terrasse, in den Wald.
Als ich nicht mehr kann, mache ich eine pause, um tief durch zu atmen. Als ich mich wieder einigermaßen beruhigt habe, ziehe ich meine Klamotten aus. Dabei denke ich daran, wie nervig das doch eigentlich ist. Aber wenn ich mich in ein größeres Tier verwandle, zerreißen meine Sachen in der Luft (was leider beim ersten mal passiert war. Gott war das peinlich meiner Mutter zu erklären).
Als ich fertig bin, denke ich an eine schöne schwarz-weiße Schwalbe und warte auf das Kribbeln. Als es einsetzte, kann ich es gerade so noch verhindern. Denn ich höre Schritte und weiß ich war nicht alleine.
Eigentlich hätte ich mir sorgen darum machen müssen dass ich gerade nackt in einem Wald stehe, aber ich war so erleichtert, dass ich nicht erwischt wurde, dass ich das ganz vergaß. Ich drehe mich langsam in die Richtung und sehe - oh gott bitte lass das nicht wahr sein - Nick, der sein Fahrrad in die Richtung zu unserem Haus schiebt. Scheinbar hat er mich auch bemerkt, denn ich sehe wie er sehr rot an läuft. "Äh, ich wusste nicht das, also ich bin nicht hier um... sorry."
Er ist der einzige, der weiß was ich bin. Und das sollte besser auch so bleiben.
"Hey ... ist doch nicht schlimm. Warte kurz."
Während er wegsieht, ziehe ich mich ganz schnell an.
Als wir noch Kinder waren, hat er mich öfters nackt gesehen. Entweder bevor oder nachdem ich mich verwandelt habe. Meistens beides.
Als ich fertig bin, gehe ich zu ihm und umarme ihn.
Ich atme den Duft nach Frühling, den er IMMER trägt, tief ein. Ich wollte ihn mal fragen, ob er überhaupt ein Parfüm benutzt, aber das ist mir irgendwie peinlich ihn zu fragen. "Beruhige dich ok? So schlimm ist das für mich nicht."
Er schaut zwar immer noch zu Boden, sagt aber: "Ok."
Ich befreie mich aus der Umarmung und verschränke meine Finger mit seinen und so laufen wir Hand in Hand zurück zu meinem alten, wunderschönen Haus.

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