Ich zerbrösle Kreide

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Ich versuchte die ganze Stunde lang so unauffällig wir möglich zu bleiben. Ich starrte aus dem Fenster und wünschte mir, dieses Zimmer verlassen zu können. Taddl merkte wohl, dass ich nervös war, denn irgendwann legte er mir eine Hand auf den Arm, woraufhin ich zusammenzuckte und ihn anschaute.

"Hey, es ist alles okay.", versuchte er, mich zu beruhigen, machte es aber nur noch schlimmer, weil der Lehrer so auf uns aufmerksam wurde. Er war der Meinung, dass ich nach vorne an die Tafel kommen solle und eine Aufgabe lösen könne, anstatt mich zu unterhalten, dabei hatte ich kein einziges Wort gesagt. Ich wagte allerdings nicht, zu widersprechen. Also lief ich langsam nach vorn zur Tafel, wobei ich die Aufgabe anstarrte, die angeschrieben worden war. Ich wusste, dass es Mathe war, aber die Tafel voll mit Buchstaben, und ich hatte absolut keine Ahnung, wie man mit Buchstaben rechnen sollte. Immer und immer wieder versuchte ich die Aufgabe zu lesen, aber ich verstand kein Wort, außerdem brauchte ich für jedes Wort gefühlt eine Stunde. Ich hielt die Kreide in der Hand und starrte die Buchstaben an, die plötzlich von der Tafel rutschen zu schienen. Verzweifelt befahl ich meinem Verstand, mit den Spielchen aufzuhören, aber ich wusste, es würde mir nichts bringen. Ich würde es niemals fertig bringen ein Muster aus den Buchstaben erkennen zu können, die Wörter würden nicht zurück kommen. Nicht, wenn ich so nervös war. Ich war Legastheniker. Und abgesehen davon hatte ich nur bis zur sechsten Klasse eine Schule besucht. Die Kreide fiel zerbröselt aus meiner zitternden Hand. Ich hörte, wie jemand kicherte, jemand anderes riss einen Witz über mich. Es wurde zu viel. Ich drehte mich um und rannte aus dem Raum. Mein Rucksack war noch immer da, aber ich konnte nicht in diesem einengenden Raum bleiben.

Meine Knie zitterten, als ich endlich stehen blieb. Ich lehnte mich keuchend gegen die Wand des Schulgebäudes und schloss die Augen. Ich horchte auf meinen Herzschlag und wartete, dass er sich beruhigte.

Alles gut, sagte ich mir. Du wirst sie alle nie wieder sehen.

Ich befühlte meine von der Prügelei geschwollenen Lippe und kratzte das getrocknete Blut weg. Meine Hände waren immer noch blutig, aber ich ließ sie einfach so, ich hatte sowieso keine Möglichkeit sie sauber zu machen. Meine Hände zitterten immer noch vor Nervosität und Angst, was mich nervte, weil ich nicht so schwach sein wollte. Aber mit Menschen, die nicht so waren wie ich konnte ich noch nie wirklich gut umgehen. Ich schloss kurz die Augen. Und dann ließ ich meinen Tränen freien Lauf. Ich schlug gegen die Wand, schrie und weinte. Ich verstand nicht, warum es ausgerechnet mich treffen musste. Ich hatte es nie verstanden. Es war nicht fair, einen elfjährigen Jungen auf die Straße zu setzen und zu sagen: "So, guck wie du klar kommst." Die letzten fünf Jahre hatte ich keinen einzigen Tag wirklich gelebt, weil ich immer darauf achten musste, dass ich irgendwie über die Runden kam.

Irgendwann ließ ich mich erschöpft an der Wand runterrutschen und legte den Kopf auf die Knie. So saß ich da, ruhig und ohne eine einzige Regung, bis ich merkte, wie der Wind, der eben noch erfrischend war, immer stärker wurde. Ich fror. Ich wusste, ich musste hier weg und in irgendeinem Laden Schutz suchen, sonst würde ich krank werden, und das konnte ich mir nicht leisten. Ich stand auf und wollte das Schulgelände verlassen, doch dazu kam es nicht, denn ich wurde in eine Ecke gezogen. Ich wollte schon schreien, da sah ich, dass es Taddl war, was es zwar auch nicht besser machte, aber ich wusste zumindest, dass er mir nicht weh tun wollte. Er hielt meinen Rucksack in der Hand und lächelte.

"Danke", sagte ich, nahm die Tasche und wollte schon gehen, als er sich räusperte. "Kannst du irgendwo hin?", fragte er.

Ich zuckte die Schultern. "Mal sehen, vielleicht find ich was."

"Du kannst mit zu mir, meine Eltern sind nicht da."

Ich sah auf. Ich zögerte kurz, aber ich wollte ihm keine Umstände machen. "Nein, passt schon."

I Knew You Were Trouble | TardyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt