1. Kälte

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Tom schlurfte lustlos durch die Gänge der Oberstufe. Er war im elften Jahrgang und würde nächstes Jahr sein Abitur machen, doch interessierte ihn all dies nicht mehr. Was sollte auch schon danach kommen? Ein Leben? Ein Traum? Familie? Vielleicht sogar Kinder?

All dies konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen. Er war nicht dazu geschaffen, etwas anderes als seine Bücher zu mögen. Er duldete zwar Menschen in seinem Umfeld, doch konnte er das leichte, unwohle Gefühl nicht unterdrücken, dass ihn immer überkam, wenn er es mit anderen Leuten zu tun hatte.

Dementsprechend war er auch ganz froh aus der Schule zu kommen, jedoch erwartete ihn an diesem Tag zu Hause eine Horde kreischender Mädchen - seine kleine Schwester feierte ihren Geburtstag.

Er seufzte einmal auf, schulterte seine Tasche und bog um die Ecke. Keine zehn Meter trennten ihn mehr von dem Ausgang.

Zu allem Überfluss hatte es begonnen zu regnen. Tom zog seine Jacke fester um sich, stellte seinen Kragen hoch und zog den Kopf ein.

Noch fünf Meter.

Vor ihm gingen mehrere seiner Mitschüler aus seiner Klasse, die fröhlich miteinander quatschten und seine Anwesenheit gar nicht wahrnahmen.

Eines der Mädchen ging etwas abseits und schaute sich kurz um. Eigentlich nichts Ungewöhnliches, doch rutschte ihr bei der Bewegung einer der dünnen Hefter unter dem Arm hervor, die sie in einem Stapel mit der linken Hand hielt.

Sie wendete sich wieder nach vorne und setzte den Weg zur Tür fort.

Normalerweise kümmerte sich Tom nicht um die Probleme anderer, doch dieser Ordner weckte auf unbeschreibliche Art und Weise seine Aufmerksamkeit. Also bückte er sich und hob den Hefter auf. Es war ein dunkelgrüner Kunststoffumschlag - unbeschriftet. Allerdings enthielt er mehrere Zettel, Matheaufgaben.

Neugierde packte ihn, etwas, was er sonst nur bei guten Büchern verspürte. Der Junge überflog die Seiten. Feinsäuberlich waren die Aufgaben bearbeitet worden, doch dies war nicht das, was ihn fesselte. Denn die Ränder waren über und über mit Sprüchen, Wörtern und kleinen Gedichten versehen. Unzusammenhängend, doch allesamt versprühten sie einen depressiven Geschmack.

Er schüttelte den Kopf, denn auf einmal war es ihm peinlich, dass er es gelesen hatte. Wäre ich doch einfach nach Hause gegangen, dachte er sich, allerdings wusste Tom auch, dass es jetzt nicht mehr zu ändern war.

Die Besitzerin des Hefters war bereits draußen und es schien, als hätte sie den Verlust noch nicht bemerkt.

Tom riss die Tür nach draußen auf. "Hey!", rief er aus. Mehrere Leute drehten sich zu ihm um, darunter auch das Mädchen. Jetzt, wo er ihr Gesicht sah, kam sie ihm bekannt vor, doch zuordnen konnte er sie nicht. "Du hast etwas verloren." Er wedelte mit dem Ordner. Der Regen war auf ein Nieseln zurückgegangen.

Sie kam ohne zu lächeln die paar Schritte zu ihm zurück. "Bitte sehr!", sagte der Junge und gab seinem Gegenüber den Hefter zurück.

Das Mädchen nickte einmal. Sie mochte ungefähr so alt sein wie er, sonst wäre sie nicht im abgegrenzten Oberstufenbereich unterwegs, doch konnte sie jedes Alter über fünfzehn haben. "Wieso gibst du ihn mir wieder?", fragte sie und sah ihn mit großen Augen an.

Perplex starrte er zurück. Mit solch einer Frage hatte er beim besten Willen nicht gerechnet. Die Besitzerin des Ordners schien sich darüber hinaus auch nicht zu wundern, dass ihr etwas fehlte, sie schien es einfach hinzunehmen.

Tom schaffte es, halbwegs aus seiner Starre zu erwachen und zuckte unbeholfen mit den Schultern - er wusste es nicht.

Den Bruchteil einer Sekunde schaute sie ihn noch an, dann drehte sie sich um und ging. Einfach so, ohne ein Wort, ohne ein Lächeln.

Lange schaute Tom ihr noch hinterher, bis sie den Schulhof verlassen hatte und hinter einer Biegung verschwand.

"Wer bist du?", flüsterte er und machte sich dann auch auf den Weg nach Hause - zu einer kreischenden Horde von siebenjährigen Mädchen.

SchneeflockenweißWo Geschichten leben. Entdecke jetzt