3. Schönheit

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Genau eine Woche später saß er wieder auf demselben Platz, in demselben Raum, bei demselben Lehrer. 'Saeculum' hatte er beendet und der Thriller stand wieder bei den anderen Werken Poznanskis im Regal.

Heute, dachte er sich und schaute zu dem Mädchen, das, wie eine Woche zuvor, erneut auf ihrem Platz in der Ecke saß und schrieb, aber heute würde er sie ansprechen, ihr die Frage stellen, die ihm nun schon seit acht Tagen auf der Zunge brannte.

Ein Blick zur Uhr. Noch fünf Minuten. Ein Blick zu Herrn Bäumer, ein Blick zu dem Mädchen, ein Blick auf seine Hände. Sie schwitzten leicht. Ein klares Zeichen von Nervosität.

Er schloss die Augen, zählte die Sekunden und langsam spürte er, wie sein pochendes Herz allmählich zur Ruhe kam. Dieses Gefühl kannte er nicht. Es war ihm vollkommen fremd, dass er so nervös wurde, nur weil er ein Mädchen ansprechen musste. Ein Mädchen, dass ihm so unbekannt war, wie kein anderes!

Vorsichtig öffnete er wieder die Augen. Noch zwei Minuten. Leise packte er seine Sachen ein. Sein rechtes Bein wippte schnell auf und ab. Ein weiteres Symptom für Nervosität. Noch eine Minute. Quälend langsam krochen die Sekunden dahin. Noch dreißig. Ein Blick durch die Klasse. Jeden einzelnen Mitschüler musterte er, dann wanderte wieder der Blick zur Uhr. Noch fünfzehn. Sein Bein wippte schneller und setzte zum Endspurt an. Noch zehn. Er seufzte. Noch acht, sieben, sechs. Mit Gewalt hielt er sein zappelnden Bein an, atmete tief durch. Noch vier, drei, zwei. Ein letzter Atemzug. Eins, null.

Es klingelte und Tom zwang sich sitzen zu bleiben. Er kramte in seiner Tasche herum, obwohl er nichts suchte. Immer wieder schielte er zu dem Platz in der Ecke und endlich sah er, wie sie aufstand und den Raum verließ.

Sie sprach mit niemanden, lächelte nicht, ihre Gesichtszüge waren vollkommen entspannt. Ruhigen Schrittes ging sie an ihm vorbei, ihn keines Blickes würdigend. Sein Herz sackte in die Hose, doch Aufgeben war nicht sein Stil.

Ein weiteres Mal atmete er tief durch, dann lief Tom ihr hinterher. Auf dem Flur vor der Klasse holte er sie ein. Sie schien ihn jedoch nicht zu bemerken. Okay, dachte er sich. Los geht's!

Vorsichtig hielt er sie an der Schulter auf. Mitten in der Bewegung blieb sie stehen und fuhr herum. Toms Mut sank weiter. Als sie jedoch sah, um wen es sich handelte, bildete sich ein schmales Lächeln auf ihren Lippen. "Hallo!", sagte sie einfach und ohne jegliche Floskel. Erwartungsvoll schaute sie zu ihm auf.

"Hi, ähm ...", fing er an, doch unterbrach er sich selber und begann ein weiteres Mal. Nichtsdestotrotz blieb ihm der Ansatz im Mund stecken und so kam er gleich zum Thema. "Wer bist du?"

Jede andere hätte ihn komisch angeschaut, doch das schmale Lächeln auf ihren Lippen wurde bloß ein wenig breiter bis sie genauso einfach antwortete: "Ein Mensch!" Unsicher trat Tom auf der Stelle. Mit so einer Antwort hatte er nicht gerechnet. Er stotterte etwas als Erwiderung, jedoch verstand er sich selbst nicht dabei, was er sagte.

"Was bist du denn?", fragte sie ihn und überrumpelte den Jungen erneut.

"Ich, ich glaube ich bin ein Träumer also ... okay, ich bin auch ein Mensch, doch würden mich Leute eher - eher als Träumer bezeichnen ..."

Ihr Lächeln wurde noch ein wenig breiter und verzog sich zu einem entzückten Grinsen. "Und wovon träumst du?" Ungeniert blickte sie ihm in die Augen.

"Meistens von Büchern. Also von den Geschichten in den Büchern!" So langsam gewann Tom einen Teil seiner Sicherheit wieder. "Aber, was möchtest du denn später machen?" Ihm kam die Frage einfach so in den Sinn. Verlegen kratzte er sich am Nacken und blickte auf seine Füße.

"Ich will leben!", sagte das Mädchen ihm gegenüber und Tom guckte überrascht hoch. Sie zog aus ihrer Hosentasche einen gefalteten Zettel und drückte ihn dem perplexen Jungen in die leere Hand.

Ein letztes Lächeln umspielte ihre Lippen, dann drehte sie sich um und ging.

SchneeflockenweißWo Geschichten leben. Entdecke jetzt