10. Verschwinden

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"Wieso wartest du?", fragte er erstaunt.

"Ich habe euer kleines Gespräch mit angehört und wollte wissen, was der Lehrer mit meinen Gedichten wollte. Sie sind nicht für ihn bestimmt!", antwortete sie so trocken wie immer.

"Er wollte mich in eine Richtung drängen, in die ich nicht wollte. Er hat mich überhaupt nicht verstanden!", erwiderte Tom beinahe verbittert.

"Wie alle", sie schaute zu ihm auf. Kein Lächeln zierte ihre Lippen.

"Aber wieso sind wir gleich?", fragte er und versuchte krampfhaft das Thema zu wechseln. Auf eine Diskussion über Lehrer wollte er sich nicht einlassen.

Um die beiden Jugendlichen herum gingen weitere Schüler lachend und quatschend ihre Wege ohne die beiden zu bemerken. Tom wusste, dass sie beide anders waren, doch niemals würde er sie als gleich bezeichnen.

"Merkst du es denn nicht?", sie sah sich um. "Wir sind unsichtbar!"

"Inwiefern?", antwortete er. Dieses Mal würde er sich nicht mit einer einfachen Antwort zufrieden geben.

"Jetzt kennt uns niemand, uns bemerkt niemand. Und für die Nachwelt sind wir nicht mehr als ein verwitternder Grabstein - wenn überhaupt."

"Aber gilt das nicht für alle? Sind wir nicht alle am Ende nur ein Grabstein?", fragte Tom und zog die Augenbrauen zusammen.

"Die anderen haben Freunde, die die Erinnerung weitertragen werden - ich nur meine Gedanken und du deine Bücher." Jetzt war sie es, die verbittert klang, auch wenn es nur ein Hauch war, der sich über die Sachlichkeit legte.

Alles was Tom darauf erwidern konnte war ein schwaches Nicken. Doch dann malte sich ein ebenso schwaches Lächeln auf seine Lippen, als er eine Frage stellte, die sich erst jetzt in ihm aufdrängte: "Wie heißt du eigentlich?"

"Emily", antwortete sie schlicht und ihm viel auf, dass auch sie einen Allerweltsnamen trug - genau wie er.

"Tom", sagte er und sein Lächeln wurde breiter. "Jetzt haben wir uns! Wir werden uns aneinander erinnern und diese Erinnerung weitertragen."

Auch Emily lächelte hoffnungsvoll, doch dann überzog ein Schatten ihre Mine und sie senkte ihren Blick. Das Lächeln verschwand. "Du bist so naiv, Tom!" Der Ausdruck der Trauer verstärkte sich. "Vielleicht kennst du mich, doch all die anderen wissen nichts über mich. Nur einen Namen, der so häufig ist, wie Sand am Meer. Ich bin nicht mehr als eine Schneeflocke. Ich falle wie sie und verschwinde unter Millionen von anderen!"

SchneeflockenweißWo Geschichten leben. Entdecke jetzt