Der Brief

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Den Kopf auf die ineinander gefalteten blassen Hände gestützt, die im schummrigen Licht wie Perlmutt strahlten, starrte ich stumm durch meine hohen Zimmerfenster in den indigoblauen Himmel hinaus und fühlte dabei nichts als unendliche Leere. Malfoy Manor lag im Schatten der Dämmerung und der erste Zipfel der nahenden Nacht schlang sich wie ein Schleier aus dunkelblauer Seide um die reichverzierten Giebel des adeligen Herrenhauses. Die hohen, dunklen Zypressenhecken gaben mir das mulmige Gefühl, dass sie das Manor wie steinerne Mauern eines Gefängnisses umschlossen. Sie schirmten die Bewohner vor neugierigen Blicken ab und so wie ich mich fühlte, fehlten nur noch die Gitterstäbe vor den Fenstern, um mir den perfekten Eindruck zu geben, dass ich tatsächlich in einem Gefängnis festgehalten wurde. Mein Blick ging in die Ferne, weit über die Hecke hinaus, den breiten Kiesweg entlang und bis hin zu den gewaltigen Grünanlagen, deren frischgemähtes Gras sich nicht einen Hauch in der Abenddämmerung bog, sondern aufrecht stand, wie als wären die Halme aus Stahl gemeißelt.

Mein Blick flog weiter, bis zum Horizont, an dem noch der letzte, blutrote Hauch der Abendsonne hing und die umliegenden Felder und Wiesen in weiches, goldenes Licht tauchte. Dort blieb mein Blick. Bei den sanft wogenden, hohen Gräsern, dem wilden roten Klatschmohn, dessen Triebe noch geschlossen waren und der Sonne, die so weit entfernt lag, wie ich nun gerne wäre. Das beklommene Gefühl in meiner Magengegend wuchs von Minute zu Minute. Schließlich zwang ich mich, den Blick abzuwenden und erst jetzt fiel mir auf, wie dunkel es in meinem Zimmer geworden war.

Seit Stunden hatte ich dort auf meinem Platz am Fenster gesessen, vor dem breiten Erker, und in die Ferne gestarrt. Doch jetzt lag der Schleier der Nacht über meinem stillen, majestätischen Zimmer. Der dunkle Schreibtisch aus Kirschholz schien mich vorwurfsvoll aus der Ecke neben dem kleinen Seitenfenster heraus anzustarren, nur die einzelne, weiße Schwanenfeder in ihrer goldenen Halterung glühte wie Weißkohle in einem Kamin, dessen Flamme auszugehen drohte. Die dicken, goldgeprägten Exemplare über Mondstudien, in denen ich in den letzten Ferien noch begeistert und fasziniert meine Nase vergraben hatte, lagen seit jeher unberührt neben der schönen Feder in ihrer Halterung und eine dünne Staubschicht bedeckte bereits den nachtblauen Einband des obersten Exemplars.

Mein gewaltiges Himmelbett mit den dunkelgrünen Laken und Kissen, der Farbe Slytherins, wirkte genauso stumm wie mein Schreibtisch, hatte es doch sonst so einladend gewirkt, mit seinen hohen Bettpfosten aus Mahagoni und den feinen, handgeschnitzten Verschnörkelungen, wirkte es jetzt kalt und leer. Selbst die hellen Vorhänge und die Fensterrahmen schwiegen mir entgegen. Es war so furchtbar still. So still im Vergleich zu dem Donnerwetter, das gleich folgen würde, sobald mein Vater über die Türschwelle seines Hauses treten würde, sich in dem langen, dunklen Flur von Gehstock und Reiseumhang befreien würde, um mit langen, festen Schritten den Salon zu betreten, meiner Mutter einen kalten Kuss auf die Wange zu hauchen und schließlich auf das stoßen, was mein Leben, wie ich es bisher immer gekannt hatte, beenden würde. Dieser kleine, unschuldige Brief... Im Grunde war es doch bloß mit dunkelgrüner Tinte beschriebenes, dickes Pergament, aber sein Inhalt wog unermesslich viel.

Meine Anwesenheit im Manor, außerhalb der Ferien, dann würde seine kalten, grauen Augen mit Erkenntnis füllen, nur um Sekunden später glühender, prasselnder Wut platzzumachen. Ich merkte, wie ich, ohne es zu wollen, zu zittern begann. Am ganzen Körper. Jede Faser dessen schien von einer frostigen Kälte umschlossen zu werden und mich in ein imaginäres Schneegestöber einzuschließen. Noch nie, nicht in meinem ganzen Leben, hatte ich meine Eltern jemals so sehr enttäuscht. Benommen fuhr ich mir mit der Hand durch mein langes, blondes Haar und schloss für einen Moment die brennenden Augen.

Das heftige Knallen des gewaltigen Eingangsportals, das zurück ins Schloss fiel ließ mich jähe zusammenzucken. Er war nach Hause gekommen. Wie ein Nebelschleier war er direkt auf die Eingangsschwelle des Hauses appariert. Deshalb hatte ich keine forschen, energischen Schritte auf dem Kies gehört, kein vertrautes, leises Plopp das seine Anwesenheit angekündigt hätte, nicht einmal das Flattern seines Umhangsaums hatte ich vernommen. Leise schlich ich zur Zimmertür und wagte es, sie einen spaltbreit zu öffnen, gerade so viel, dass ich die Stimmen meiner Eltern aus der Eingangshalle herauf bis in den ersten Stock wie ein leises Summen vernehmen konnte. Vorsichtig schob ich die Tür ein wenig weiter auf und huschte auf den leeren, dunklen Flur hinaus. Langsam kauerte ich mich auf der breiten Treppe zusammen, die von unten aus in die oberen Stockwerke führte. Meine Finger schlossen sich um die Gitterstäbe des Treppengeländers und ich blickte nun mit wild pochendem Herzen in die marmorne Eingangshalle hinab, die mein Vater soeben betreten hatte. Meine Mutter scheuchte gerade einen Hauselfen davon und nahm nun selbst den Reiseumhang ihres Gatten entgegen, während dieser ihr Gesicht in beide Hände nahm und ihr einen Kuss auf die Stirn drückte.

Isabella Malfoy Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt