Einsicht

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Es ging bereits auf Mitternacht zu, als mein Zaubertrankprofessor sich endlich von der alten mottenzerfressenen Couch erhob, sich kurz streckte und mich von oben herab kritisch ins Auge fasste. Ich unterdrückte ein Gähnen. Er war wieder ganz der Professor und ich die ungezogene Schülerin von damals. Und doch war es irgendwie anders. Sein Blick war tadelnd, aber ich sah den kleinen Hauch von Belustigung, der sich in das funkelnde Schwarz seiner Augen mischte.

„Sie sollten zu Bett gehen, es ist bereits spät. Ich werde nun nach Hogwarts zurückkehren und das Gespräch mit Dumbledore in die Wege leiten. Sie sollten sich ausruhen, Sie sind sicherlich müde." Sein Blick blieb an meinem blassen erschöpften Gesicht hängen. „Morgen werde ich Sie zurück nach Malfoy Manor begleiten..." Er hielt inne, als er sah, wie ich mich kaum merklich verkrampfte und seine rechte Augenbraue wanderte bei diesem Anblick ein Stück himmelwärts. „Ich befürchte Sie kommen nicht um dieses Wiedersehen herum, Miss Malfoy."

Ich blickte zu ihm empor. Sein schwarzes Haar war zerzaust vom Wind der Nacht und seine dunklen Augen schimmerten im Licht der Kerzen, die überall im Zimmer deponiert waren, auf etlichen staubigen Bücherstapeln, auf dem wackeligen Couchtisch und auf dem Fenstersims. Er wirkte wie immer reserviert und kontrolliert, doch seine Augen verrieten mir, dass nun auch ein Anflug von Besorgtheit in seinem Verhalten mitschwang.

„Ich verstehe, Sir", sagte ich und erhob mich ebenfalls. „Ich sollte wohl..." Suchend blickte ich mich in dem kleinen Wohnzimmer um. Eine Treppe in ein oberes Stockwerk konnte ich nicht entdecken.

Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem amüsierten Lächeln. Er zog den Zauberstab, schwang ihn einmal kurz durch die Luft und auf dem Sofa vor mir erschienen eine dünne Decke und ein paar Kissen. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und blies mir eine lästige Haarsträhne aus dem Gesicht.

Ich räusperte mich. „Danke." Er hob erneut eine Braue. „Chrm, ich meine, danke, Professor."

Unschlüssig stand ich da. Barfuß und noch immer in dem rosafarbenen Kleid, das meine Mutter mir –es kam mir beinahe so vor, als wäre eine kleine Ewigkeit vergangen- heute Morgen herausgesucht hatte. Ich verknotete nervös meine Finger miteinander und sah leicht betreten zu Boden.

Er starrte mich an. Aber wieder wirkte es beinahe so, als würde er durch mich hindurchsehen, als wäre ich Luft. Schließlich wandte er sich mit solch einer energischen Drehung von mir ab, dass ich einen Schritt zurück taumelte.

Er warf sich seinen dunklen Reiseumhang über die Schulter und griff nach seinem Zauberstab. Schon hatte er die Hand auf die Türklinke gelegt, als ich einen Schritt auf ihn zumachte.

Ich bereute meine jähe Bewegung bereits und hätte mich am liebsten gleich wieder umgedreht. Sein stählerner Blick ruhte auf mir.

„Ja, Miss Malfoy?" Ein zynischer Unterton schwang in seinen Worten mit.

„Es ist nichts", sagte ich rasch.

Er trat auf mich zu, seine Pupillen verschmolzen nun beinahe mit dem Schwarz seiner Iris. Er wirkte seltsam fremd in diesem gespenstisch flackernden Licht der Kerzen.

„Wollen Sie mich zum Narren halten?"

„Nein, wirklich nicht, Professor."

„Nun, Sie tun es aber ganz offensichtlich." Seine Miene versteinerte sich.

„Ich-"

„Nun rücken Sie schon raus mit der Sprache, Miss Malfoy, ich habe nicht die ganze Nacht Zeit." Sein Blick wurde mit einem Mal milder, beinahe sanft. „Was immer es ist, Sie können es mir sagen."

„Es ist nur... wegen meinem Vater... Er..."

„Ja, Miss Malfoy? Was ist mit Ihrem Vater?"

„Ich... Er..."

Er schnalzte missbilligend mit der Zunge und sein Blick war ungehalten. „Hat man Sie mit einem Langlock-Zauber belegt oder warum klebt Ihnen Ihre Zunge plötzlich scheinbar am Gaumen fest?"

Nun hatte er mehr Ähnlichkeit mit einem Lehrer als je zuvor. Vielleicht war das der Grund, warum ich plötzlich die Sprache wiederfand, oder aber es war schlicht das Flackern des Lichts, das sein Gesicht merkwürdig verzerrte und ich ihm somit nicht mehr direkt in die Augen sehen musste.

„Ich will unter keinen Umständen zurück nach Malfoy Manor."

Die Worte waren raus. Endlich. Sie verließen meinen Mund geradezu leichtfüßig. Diesen Satz auszusprechen war die pure Erleichterung. Nie zuvor hatte ich etwas so ernst gemeint, wie in jenem Augenblick. Ich hatte den Wunsch schon vorher geäußert, doch jetzt meinte ich die Worte todernst.

Die Miene meines Zaubertrankprofessors blieb unberührt. „Wie ich Ihnen bereits mitteilte, Miss Malfoy, Sie müssen früher oder später zurückkehren."

„Ich kann nicht. Bitte", flehte ich. „Ich hasse dieses gottverdammte Manor so sehr, mit allen Leuten die da rinne leben. Mein Vater..." Ich presste die Lippen aufeinander. „Dieser elende Heuchler." Ich merkte, wie ich die Hände zu Fäusten ballte. „Ich hasse ihn so sehr, Gott, und wie ich ihn hasse." Ich merkte, wie ich mich regelrecht in diese Worte hineinsteigerte. Aber es tat so gut, all dies auszusprechen.

Nun machte er doch einen Schritt in meine Richtung, seine Hand ruhte auf meiner Schulter. „Manchmal ist es weiser, zu vergeben, anstatt zu hassen", sagte Snape sanft.

„Vergeben?" Verächtlich blähten sich meine Nasenflügel auf und ich sah Snape ungläubig an. „Ich glaube nicht, dass es an mir ist zu vergeben, Sir, bei aller Achtung."

Keine Regung in diesem blassen, männlichen Gesicht. „Gerade Sie sollten wissen, dass Vergebung meist der erste Schritt zur Besserung der Situation ist. Und Sie denken vielleicht jetzt, dass Sie Ihren Vater hassen, aber so ist es nicht in Wirklichkeit, nicht wahr?"

„Nein", rief ich nur. Schrie dieses einzelne Wort fast heraus. Ich wollte nicht vergeben. Es war nicht an mir, zu vergeben. Vielmehr musste man die Tatsache akzeptieren, dass bestimmte Dinge nie wieder so sein würden, wie sie einmal waren. Ich fühlte ich mich so einsam, so verlassen... Doch Snape sah mich unverwandt an, mit seinen schwarzen Augen, die so intensiv schimmerten, als wären sie endlos. „NEIN!", schrie ich aufs Neue.

Plötzlich schloss er mich in die Arme. Kurz. Fremd. Verunsichert hielt ich inne, wagte es nicht mich zu bewegen. Seine Arme hielten mich in Schach, zwangen mich dazu, still zu halten. Wieder stieg mir sein Geruch in die Nase. Der Duft der Kräuter stimmte mich seltsam müde.

Ich schloss für einige Augenblicke die Augen, vergrub mein Gesicht in den Falten seiner Robe. Atmete still. Plötzlich dämmerte es mir. Warum sagte er wohl etwas Derartiges? Ganz einfach. Er wollte mich nicht bei sich haben. Er wollte mich nicht um sich haben. Ich war ihm zu wider. Ein lästiges, kleines Kind. Unbeherrscht, unkontrolliert.... Schwach. Wie konnte ich nur so naiv gewesen sein...

Ich schob ihn weg, konnte seine Nähe nicht ertragen. Seine Brauen zogen sich zusammen. Das erste Mal konnte ich etwas Neues in seinem Gesicht lesen – Verwirrung. „Sie sind wie er", flüsterte ich. „Sie teilen seine Gedanken. Was bin ich schon mit meinen sechzehn Jahren... nur ein dummes Mädchen, dem man erst beibringen muss, dass es seine Pflichten erfüllen muss? Das ist es doch, was Sie in mir sehen, oder?" Er sah mich an, seine Augen glühten. „Oder?", rief ich.

Er hob eine Hand. „Wagen Sie es ja nicht, mir so etwas zu unterstellen!" zischte er. „Sie wissen nichts über mich. Rein gar nichts." Er wirbelte auf dem Absatz herum, sein Umhang bauschte sich auf, sein Blick war eiskalt. Er riss die Haustür mit solcher Wucht auf, dass ich einen Moment inne hielt.

Der Regen hatte die Straße draußen in ein kleines Bächlein verwandelt und die Tropfen peitschten unnachgiebig gegen das einzige Fenster des Hauses. Der Wind war so heftig, dass er den Regen bis ins Haus hineintrieb. Er schlug Snape mit seinen klammen Fingern ins Gesicht.

Snape trat hinaus auf die Türschwelle und als er sprach triefte seine Stimme vor Hohn. „Und ja, in einem Punkt haben Sie Recht, Miss Malfoy, Sie sind wirklich ein dummes Mädchen!"

Seine Augen bohrten sich in die meinen, dann drehte er sich um und die Tür fiel mit einem so heftigen Knall zurück ins Schloss, dass etwas Putz von der Decke rieselte. Der Regen trommelte weiter auf das Fenster ein. Eisige Kälte umschloss mein Herz. Ich hatte den letzten Menschen vertrieben, der mir etwas bedeutete. Erschöpft sank ich auf dem Boden zusammen, vergrub das Gesicht zwischen den Knien. Die Erkenntnis traf mich wie ein Peitschenhieb. Er hatte Recht... Ich war so furchtbar dumm.



Isabella Malfoy Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt