Kapitel 2

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Es war spät am Nachmittag, als Mrs Campbell sich verabschiedete. Die beiden Frauen hatten noch sehr viel geredet, und so die vergangenen Jahre, in denen sie sich nicht gesehen hatten, aufgefrischt. Erst war es Maggie schwer gefallen, über ihre Mutter zu sprechen aber nach einer Weile hatte es einfach gut getan, sich den Schmerz von der Seele zu reden und jemanden zu haben, der ihr zuhörte. Nachdem Maggie Mrs Campbell noch ein letztes Mal hinterher gewinkt hatte, schloss sie die Haustür und lief in die Küche, wo noch immer das Päckchen lag, das sie von Mrs Campbell bekommen hatte. Vorsichtig, als hätte sie Angst, es könne kaputt gehen, hob Maggie es vom Tisch auf. Was das wohl ist?, fragte sie sich. Und warum hat Mom es mir nicht selbst gegeben, sondern Mrs Campbell darum gebeten? Aufgeregt begann Maggie, das Päckchen zu öffnen, indem sie das braune Papier behutsam herunterschälte. Zum Vorschein kam ein kleines schwarzes Fotoalbum. Maggie schlug es auf. Auf der ersten Seite war ein Bild von ihrer Mutter, wie sie die Hände auf den dicken Babybauch legte. Darunter stand „Mom und Baby, November 1991". Es handelte sich also um Fotos von damals, vor Maggies Geburt! Sie hatte noch nie Fotos aus dieser Zeit gesehen. Das älteste, das sie von sich selbst besaß, zeigt sie als Ein- oder Zweijährige. Maggie blätterte weiter und erstarrte. Auf dem nächsten Foto war wieder ihre schwangere Mutter zu sehen, doch diesmal befanden sich noch weitere Personen auf dem Bild. Ein Mann, der einen Arm um ihre Mutter legte und ein kleines blondes Mädchen, das grinsend ein Ohr an den Babybauch drückte. Alle drei sahen sehr glücklich aus. Die Unterschrift lautete „Mommy, Daddy, Emily und das kleine Geschwisterchen, Februar 1991." Maggie musste sich setzten, um nicht umzukippen, als ihr die Worte ihrer Mutter durch den Kopf gingen. „Du bist ihr so ähnlich, weißt du das? Deiner Schwester." Es bestand kein Zweifel, Maggie hatte eine Schwester. Tatsächlich sah das kleine Mädchen fast so aus wie Maggie. Und der Mann war ihr Vater. Maggie hatte ihn nie gekannt, er hatte sich selbst umgebracht, als sie noch nicht einmal auf der Welt war. Ihre Mutter hatte nie darüber gesprochen. Es gibt einiges, was sie mir nicht erzählt hat, dachte Maggie. Sie war vollkommen verwirrt. Warum? Warum hätte sie mir meine Schwester verschweigen sollen? Fragen über Fragen drängten sich in Maggies Kopf, während sie weiterblätterte. Es folgten noch einige solcher Familienfotos, im Haus, im Garten, im Urlaub, die meisten waren von 1991, dem Jahr, in dem Maggie geboren war. Emily. Ich bin gar nicht Moms erstes Kind, sondern du warst es. Was ist mit dir passiert? Warum habe ich dich nie getroffen? Je mehr Fotos von ihrer Familie Maggie betrachtete, desto trauriger wurde sie. Wie gerne hätte sie ihren Vater und ihre Schwester Emily gekannt. Auf keinem der Fotos war sie selbst zu sehen; sie war zwar dabei gewesen, aber immer nur als Ungeborenes im Bauch ihrer Mutter.

Maggie sah sich Foto für Foto an, bis nur noch eine letzte Seite übrig war. Zögernd blätterte sie um. Ein kleiner Zettel fiel hinaus. Maggie hob ihn auf. Darauf klebte eine getrocknete Blume und darunter stand: „1991: Für Emily – Ruhe in Frieden." Maggie schlug sich die Hand vor den Mund. Emily war also tot. Sie hatte es geahnt, doch diese Bestätigung schockierte sie. Zitternd legt sie den Zettel auf den Tisch, um auch das letzte Foto betrachten zu können. Dieses war kein Familienfoto. Es zeigte Emily und einen kleinen Jungen, ungefähr im gleichen Alter wie Emily. Sie standen vor einem sehr großen, düsteren Haus. Emily schaute in die Kamera, während der Junge Emily anschaute. Beide sahen ernst, ja, fast traurig aus. Unter dem Bild stand „Emily und Brahms, Heelshire Mansion, Dezember 1991." Es war also, genau wie das erste Foto im Album, kurz vor Maggies Geburt entstanden. Sie betrachtete das Bild noch eine Weile, dann klappte sie das Buch zu. Sie wusste nicht, was sie davon halte sollte. Schon allein zu erfahren, dass sie eine Schwester gehabt hatte, war ein ziemlicher Schock gewesen, doch auch noch herauszufinden, dass sie offenbar gestorben war .... Außerdem war da noch das Bild mit diesem Jungen, Brahms, das Maggie nicht aus dem Kopf gehen wollte. Wenn dieses Foto im Dezember 1991 entstanden war und Emily 1991 gestorben war, dann musst es kurz nach dieser Aufnahme passiert sein, also noch im Dezember des Jahres. Kurz vor meiner Geburt, dachte Maggie. Und irgendwie wurde sie das Gefühl nicht los, dass der Junge etwas mit Emilys Tod zu tun hatte.

Spuren der Vergangenheit ("The Boy" Fanfiction)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt