Kapitel 6

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Sie hielten direkt vor dem riesigen Gebäude und stiegen aus. Sebastian war schon zur Eingangstür gelaufen, während Maggie nur dastand und voller Staunen das Haus betrachtete. Es war wunderschön, von Nahem betrachtet sah es aus wie ein Märchenschloss mit seinen Erkern und kleinen Türmchen, wirkte aber im kalten Grau des Wintermorgens und umrandet von den dunklen, kahlen Bäumen zugleich auch finster und bedrohlich.
Plötzlich beschlich Maggie ein seltsames Gefühl, als ob sie jemand beobachtete.
Sie ließ ihren Blick über die Fenster streifen, sah aber nichts weiter als ein paar weiße Vorhänge und dahinter die Dunkelheit im Inneren des Hauses.

„Maggie? Kommst du?" Sebastians Stimme weckte sie aus ihren Gedanken. „Ja, klar," sagte sie und lief ebenfalls zur Eingangstür. Sebastian hatte sie bereits geöffnet. Maggie schaute sich noch einmal um, doch es war nichts zu sehen oder zu hören und so wandte sie sich wieder Sebastian zu. Der stand im Türrahmen und machte eine einladende Geste.
„Darf ich Mylady in mein Schloss geleiten?", fragte er mit vornehmer Stimme und zog dabei auch noch eine so komische Grimasse, dass Maggie in schallendes Gelächter ausbrach.
„Ihr dürft, Mylord" , antwortete sie grinsend und auch Sebastian musste jetzt lachen.
Die beiden betraten die dunkle Eingangshalle. Das Haus war auch von innen riesig.
Es hatte hohe Decken, die Wände waren holzvertäfelt und von ausgestopften Tiereköpfen geziert.
„Wow....also das nenn ich mal altmodisch", sagte Sebastian. Verstohlen blickte Maggie ihn von der Seite an. Jetzt war sie unendlich froh, dass sie ihn bei sich hatte. Sie wusste nicht, was sie gemacht hätte, wenn sie alleine hergekommen wäre, nur um herauszufinden, dass das Haus verlassen war. Und trotz der düsteren Atmosphäre, die das Haus umgab und der Tatsache, dass hier schreckliches geschehen war, fühlte sich Maggie sicher und wohl bei Sebastian. Außerdem ist er auch nicht gerade unattraktiv, dachte sie bei sich und musste lächeln. Er hatte anscheinend gemerkt, dass sie ihn beobachtete, denn jetzt sah auch er sie an und erwiderte ihr Lächeln.
Schnell richtete Maggie ihren Blick wieder geradeaus. „Ja, aber irgendwie auch edel.
Oder nicht?", fragte sie. „Mhh", machte Sebastian. „Naja, diese ausgestopften Viecher sind nicht so mein Geschmack. Da hat man ja die ganze Zeit das Gefühl angeglotzt zu werden. Und geputzt wurde hier wohl auch schon lange nicht mehr." Er fuhr mit dem Finger über eine Kommode, die im Flur stand und wirbelte dabei eine Menge Staub auf. „Ja, diese Tiere an der Wand sind schon ein bisschen unheimlich", sagte Maggie. „Aber staubig ist es wahrscheinlich in vielen unbewohnten Häusern. Dein Kumpel, dieser Malcolm, wann war der das letzte Mal hier?
Er muss die Heelshires doch zuletzt gesehen haben." Sebastian schüttelte den Kopf.
„Die sind weggefahren und haben eine Nanny aus Amerika für ihren ‚Jungen' angestellt. Sie hat sich dann um das Haus gekümmert und immer die Lebensmittel entgegengenommen."
Während er erzählte, sahen sie sich weiter im Korridor um.
„Sie und Malcolm haben sich wohl ziemlich gut verstanden; als ihnen klar wurde, dass die Heelshires nicht wiederkommen, sind sie zusammen in die Staaten abgehauen. Malcolm hat öfters von ihr erzählt, aber er hat sie mir nie vorgestellt. Und auf einmal hat er mich angerufen, er sitzt im Flieger und weiß noch nicht wann er wiederkommt. Verräter", sagte er und schüttelte gespielt beleidigt den Kopf. Sie standen jetzt an der Treppe, die in die oberen Stockwerke führte. Sebastian bestieg die ersten paar Stufen und sah hinauf. Maggie tat es ihm gleich. Es gab noch zwei weitere Stockwerke und von der Treppe aus konnte man bis nach ganz oben schauen.
Maggie musste daran denken, wie sie einmal mit ihrer Mutter die Canterbury Cathedral besucht hatte und die war so riesig gewesen, dass sie sich darin ganz klein und machtlos gefühlt hatte. Natürlich war das Haus der Heelshires nicht so groß wie die Kathedrale aber trotzdem fühlte sie sich hier genauso. „Also falls du vorhast, das ganze Haus zu durchsuchen, dafür brauchst du wahrscheinlich mehrere Tage, so wie das hier aussieht", sagte Sebastian. „Von innen kommt es einem fast noch größer vor."
„Kaum zu glauben, dass die hier bloß zu zweit gelebt haben. Hier wäre ja Platz für mehrere Familien" ,sagte Maggie. „Sollen wir mal in den Räumen nachsehen?", fragte Sebastian. „Mich würde mal interessieren wie es hier so aussieht." Maggie nickte. Sie liefen die Treppe wieder hinunter und den Gang nach links. Sebastian öffnete eine der Türen, die sich dort befanden und sie betraten das Zimmer. An den Wänden reihten sich Bücherregale und in der Mitte des Raumes stand ein Klavier. Als Maggie das sah, quiekte sie erfreut auf, schob sich eilig an dem verdutzten Sebastian vorbei und setzte sich auf den Klavierhocker. Sie klappte den Deckel auf und begann einfach zu spielen. Sie liebte Musik und spielte Klavier schon seit sie klein war. Es war besser als jede Therapie fand sie; es war das einzige, bei dem sie den Kopf richtig frei bekam. Maggie lächelte, während ihre Finger über die weißen und schwarzen Tasten glitten. Sie musste lächeln, als sie merkte, wie Sebastian neben ihr in die Hocke ging und ihr aufmerksam beim Spielen zusah. So saßen die beiden eine Weile. „Das war wunderschön", sagte er, nachdem sie ihr Spiel beendet hatte. „Was war das für ein Lied? Das da?", fragte er und deutete auf das Notenblatt, das auf dem Klavierständer lag.„Nein, das war meins", antwortete Maggie. „Ich hab mir die Melodie gerade ausgedacht."
„Wow, wirklich? Du bist ziemlich talentiert, weißt du das? Bist du Musikerin?" „Nein. Eigentlich bin ich gerade sozusagen arbeitslos, aber ich würde gerne Musik studieren und dann später auch damit mein Geld verdienen."
Maggie betrachtete das Notenblatt. „Aha. Jetzt wissen wir, warum der Sohn Brahms hieß", sagte sie und hielt Sebastian das Blatt hin. Verwirrt schaute er sie an. „Ach wirklich? Und warum?", fragte er. Maggie lachte. „Du hast wohl keine Ahnung von Musik, was? Das ist das Wiegenlied von Johannes Brahms, er war ein deutscher Komponist, der im 19. Jahrhundert gelebt hat. Die Melodie kennst du bestimmt." Sie spielte ihm die Melodie vor. „Ach ja, die kenne ich. Aber wieso haben die ihren Sohn Brahms genannt? Klingt doch komisch oder?" „Ich finds irgendwie süß", sagte Maggie. „Wenn du meinst", lachte Sebastian. „Wollen wir uns noch ein wenig weiter umschauen?" Maggie nickte, legte das Notenblatt zurück an seinen Platz und stand auf. Sie verließen das Zimmer und gingen wieder in den Flur. Sebastian lief den Gang weiter an der Treppe vorbei, während Maggie eins der Zimmer nebenan betrat. Hier befand sich also die Küche. Sie war im Vergleich zum Rest des Hauses etwas heller und freundlicher eingerichtet. Maggie lief ein wenig umher und sah sich alles an. Bei der Spüle blieb sie verdutzt stehen. Merkwürdig, dachte sie. Neben der Spüle, auf einem Abtropfgitter, lag sauberes Geschirr – an sich nichts ungewöhnliches, es hätte ja von der Nanny so zurückgelassen worden sein können – aber es tropfte. Vorsichtig strich Maggie mit dem Zeigefinger über einen Teller. Er war nass. Auch in der Spüle stand noch etwas Wasser. Das bedeutet, dass jemand hier gewesen sein muss und zwar gerade eben. Maggie schauderte. War das Haus etwa doch nicht verlassen? „Sebastian!" , rief sie. „Kannst du bitte mal herkommen?" Doch er rief: „Maggie, schau mal, was ich gefunden habe! Das musst du sehen!" Zögernd folgte Maggie seiner Stimme, warf aber noch einmal einen Blick auf das frischgespülte Geschirr, wie um sich zu vergewissern, dass sie es sich nicht eingeblidet hatte. Der Raum, den sie betrat, wurde von einem riesigen Billardtisch eingenommen. Sebastian lehnte lässig dagegen. „Lust auf ne Runde Billard?", fragte er grinsend. „Ähh. Klar", sagte Maggie. „Aber kannst du dir vorher noch etwas ansehen?" Er nickte. Sie gingen zurück in die Küche. Das Geschirr war weg. Alles war trocken, die Küche sah verlassen aus, wie auch der Rest des Hauses und nichts deutete darauf hin, dass jemand vor kurzem hier gewesen war. Verwirrt blickte sich Maggie um. „Und, was wolltest du mir zeigen?", fragte Sebastian. „Ich weiß nicht...", sagte Maggie. „Ich dachte, ich hätte...nicht so wichtig..." Habe ich mir das doch eingebildet? Naja, wäre ja nicht das erste mal, dachte sie bei sich. Ich bin wohl einfach nur müde.
„Alles in Ordnung?" ,fragte Seabstian. „Ja, natürlich. Lass uns Billard spielen." Fröhlich packte Maggie seine Hand und zog ihn aus der Küche.Hoffnungslos lies sich Maggie in den Sessel sinken, der neben dem Billardtisch stand. Gegen Sebastian hatte sie einfach keine Chance. Bis jetzt hatte sie zwei Kugeln versenkt, ihm fehlte nur noch eine. Nachdem er auch diese versenkt hatte, nahm er auf dem Ledersofa auf der anderen Seite des Tisches platz. Über ihm, an der Wand, fehlte ein Stück Tapete, wie Maggie auffiel. Ist doch nicht alles so perfekt wie es scheint in diesem Haus, dachte sie. Sebastian blickte zu ihr herüber. „Revanche?", fragte grinsend. Böse sah Maggie ihn an. Abwehrend hob er die Hände „Was? Ist ja nicht meine Schuld, dass du so grottig spielst. Ich lass dir diesmal auch eine Chance." Er er setzte einen flehenden Hundeblick auf, sodass Maggie sich das Lachen nicht verkneifen konnte. „Von mir aus. Aber wehe, du nennst meine Spielweise noch einmal grottig."
Sie waren bestimmt schon über eine Stunde mit Billard beschäftigt, als Sebastians Handy klingelte. Er hob ab. „Hallo?....Was?..... Ja, ich höre dich kaum, der Empfang ist so schlecht. Was gibt's?.....Nein....du verarschst mich doch jetzt, oder?...... So ein Mist! Ja, ich bin schon unterwegs. Bis gleich." Er legte auf und fuhr sich verzweifelt mit der Hand über das Gesicht. Fragend sah Maggie ihn an. „Ich fürchte, wir müssen wieder zurückfahren", erklärte er. „Ein Kumpel von mir hat angerufen; es gab einen Brand im Haus neben meinem Pub und der hat leider auch was abbekommen. Ich muss sofort dahin und mir den Schaden ansehen." Entschuldigend sah er sie an.Was? Nein! Ich kann doch jetzt nicht weg! Maggie überlegte kurz, dann sagte sie: „Ich würde gerne noch etwas bleiben. Du kannst ruhig zu deinem Pub fahren, ich kann doch einfach hier übernachten. Ich hab doch meine Sachen alle in meinem Rucksack und morgen rufe ich mir einfach ein Taxi." Besorgt sah Sebastian sie an. „Du willst ganz alleine hierbleiben? Ich weiß nicht, ob das so eine Gute Idee ist. Mir wäre es lieber, du kommst mit mir und vielleicht können wir in ein paar Tagen nochmal herkommen." Maggie berührte sanft seine Schulter und sagte: „Ich weiß zu schätzen, dass du dich um mich sorgst aber das hier ist mir sehr wichtig. Ich komm schon klar, ehrlich. Zu Hause lebe ich auch alleine, das ist nichts neues für mich. Bitte, Sebastian."
Sebastian zögerte. Maggie wusste, es war ihm überhaupt nicht recht, sie alleine hier zu lassen. Was ihn umso sympathischer machte, wie sie fand. Schließlich gab er nach: „Also schön. Es ist ja deine Entscheidung. Aber ruf mich an, sobald du wieder in der Stadt bist, ja?" „Versprochen."
Er gab ihr seine Nummer. Dann verließen sie das Haus und Maggie holte ihren Rucksack aus dem Auto. „Danke, dass du dir soviel Zeit für mich genommen hast", sagte sie mit einem Lächeln und gab Sebastian zum Abschied einen Kuss auf die Wange. Sie wartete, bis das Auto hinter den Bäumen verschwunden war, dann drehte sie sich um und betrat erneut das Haus. Jetzt war sie hier. Allein. Dachte sie zumindest.

Spuren der Vergangenheit ("The Boy" Fanfiction)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt