Kapitel 11

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„W-wer ist das?", fuhr der Blonde Maggie zornig an, doch die Verunsicherung in seiner Stimme war nicht zu überhören. Natürlich hatte er damit gerechnet, dass er sie alleine hier vorfinden würde. Doch Maggie gab keine Antwort. Sie konnte nur den Fremden anstarren, der wie aus dem nichts aufgetaucht war. Er war groß und schlank; seine Kleidung, ein dunkelgrüner Cardigan, eine braune Hose und ein weißes Shirt, waren abgetragen und schmutzig. Zudem trug er weder Schuhe noch Socken. Sein Haar war dunkel, fast schwarz und lockig. Doch am außergewöhnlichsten an seiner Erscheinung war die Maske, die dem Gesicht der Porzellanpuppe glich. Vom echten Gesicht darunter war bis auf die Augen nichts zu erkennen, doch das ließ den Mann nur noch unmenschlicher und unheimlicher erscheinen. Als der Blonde begriff, dass Maggie nicht antworten würde, rief er, an den Mann mit der Maske gewandt: „Wer zur Hölle bist du?"  Statt zu antworten, musterte der Fremde erst Dylans Handlanger, danach sah er sehr lange Maggie an, die immer noch blutverschmiert und tränenüberströmt am Boden saß. Schließlich sagte er, mit der Stimme eines kleinen Jungen, die ihr nur allzu bekannt vorkam: „Maggie, ich bin es Brahms." Er streckte den Arm nach ihr aus und wollte einen Schritt auf sie zumachen, da zückte der Blonde ein Messer, das er krampfhaft auf ihn gerichtet hielt. „Okay, ich weiß nicht, was hier vorgeht, aber du gehst mir sofort aus dem Weg und lässt mich mit der Kleinen von hier verschwinden, verstanden?!" Und zu Maggie gewandt brüllte er: „Steh auf!" Doch sie schenkte ihm keine Beachtunng; sie saß nur da, wie erstarrt, den Blick immer noch auf den Mann mit der Maske gerichtet. „Unmöglich. Das kann nicht sein", flüsterte sie. Aber in Wahrheit hatte sie es länst begriffen. Es war Brahms. Und er war kein Geist, sondern aus Fleisch und Blut. Und er war auch kein kleiner Junge, sondern ein erwachsener Mann. Der Blonde, der durch Maggies Reaktion nur noch mehr verwirrt wurde, wollte dem ganzen endlich ein Ende setzten. Wütend verstärkte er den Griff um sein Messer, bereit, damit auf Brahms loszugehen, doch dieser hatte sein Vorhaben längst erkannt. Bevor den Blonde ausholen konnte, versetzte Brahms ihm einen Tritt in den Bauch, der so heftig war, dass er nach hinten taumelte und mit dem Rücken hart gegen die Wand aufschlug. Benommen versuchte er, wieder sein Gleichgewicht zu erlangen, doch schon war Brahms wieder bei ihm, schlug ihm das Messer aus der Hand, packte ihn mit beiden Händen an der Kehle und drückte zu. Röchelnd und zappelnd versuchte der Blonde, sich zu wehren, während sein Gesicht immer dunkler und Brahms' Griff immer fester wurde. Nach kurzer Zeir wurden die sinnlosen Versuche, sich zu befreien, immer weniger, bis er schließlich ganz aufhörte, sich zu bewegen. Erst jetzt ließ Brahms von seinem Opfer ab, sodass es leblos zu Boden fiel und trat einen Schritt zurück, um sein Werk zu betrachten. Die blutunterlaufenen Augen des Toten, vor Panik noch weit aufgerissen, starrten Maggie direkt an. Als sie realisierte, was sie da gerade gesehen hatte, schrie sie entsetzt auf, bereute es aber sofort, denn Brahms, dessen Aufmerksamkeit bisher dem leblosen Körper von Dylans Handlanger gegolten hatte, richtete den Blick jetzt auf sie. „Maggie?", sagte er erneut mit der Kinderstimme, die sich beängstigend echt wie die eines kleinen Jungen anhörte. Langsam ging er auf sie zu. Erst jetzt begriff Maggie, dass sie hätte weglaufen sollen, doch Brahms kam ihr zuvor. Als sie versuchte, sich aufzurappeln, war er schon bei ihr und drückte sie wieder zu Boden, sodass sie auf dem Rücken unter ihm lag. Wie gelähmt vor Furcht, war sie unfähig zu schreien, geschweige denn, sich zu wehren. Doch selbst, wenn sie sich hätte bewegen können, hätte das kaum etwas genützt, denn Brahms hatte sie regelrecht am Boden festgenagelt. Ihre Handgelenke fest umklammert und zu beiden Seiten ihres Kopfes zu Boden gedrückt, saß er auf ihr, hatte sich über sie gebeugt und sah ihr direkt in die Augen. Maggie starrte zurück. Ihre Gesichter waren jetzt nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt. Sie konnte die feinen Risse im Porzellan erkennen. Sie konnte sein Atem unter der Maske hören. Sie spürte sein Gewicht auf ihrem Körper; die Hitze die von ihm ausging. Was hatte er jetzt mit ihr vor? Sie verletzen? Sie töten? Maggie spürte, wie er einen ihrer Arme losließ; seine freie Hand wanderte zu ihrem Gesicht. Erneut kamen ihr die Tränen und in Gedanken auf das Schlimmste vorbereitet, schloss sie die Augen.


Tief sog er Maggies verführerischen Duft ein. Sie war perfekt. Ihre Haut war so weich, so makellos. Und er wollte sie, mehr als er Greta jemals gewollt hatte. Sie hatte die Augen geschlossen und Tränen und Blut liefen ihr übers Gesicht. Zufrieden sah er zu dem leblosen Körper des Mannes, der es gewagt hatte, sich an ihr zu vergreifen. Nie wieder würde er zulassen, dass ein anderer Maggie berührte, denn sie gehörte jetzt ihm, ihm allein. Sie war so wunderschön. Je länger er sie betrachtete, desto mehr fand er, dass sie Emily fast ein bisschen ähnlich sah. Der Gedanke an Emily versetzte ihm einen Stich. Während sie für immer ein Kind bleiben würde, entfernte er sich selbst mit jedem Tag ein Stück mehr von ihr. Bloß die Puppe gab ihm das Gefühl, die Zeit irgendwie aufhalten zu können. Nur seinetwegen war Emily nicht mehr am Leben. Er war schuld daran, dass seine Eltern ihn für immer verlassen hatten und auch, dass Greta schließlich vor ihm davongelaufen war. Nachdenklich beobachtete er eine Träne, die sich in Maggies Augenwinkel gesammelt hatte, über ihr Gesicht lief und schließlich in einer ihrer goldenen Haarsträhnen landete. Er wusste, dass er es nicht ertragen konnte, wenn sie ihn auch noch verließe. Doch das würde er nicht geschehen lassen. Für Maggie gab es kein Entkommen mehr.


Maggie wartete. Sie wartete darauf, dass Brahms ihr wehtun würde. Aber er tat es nicht. Stattdessen spürte sie, wie er ihr sanft über die Wange strich und so einige ihrer Tränen fortwischte. Und dann, wie das Gewicht auf ihrem Körper nachließ und er sie freigab. Überrascht öffnete Maggie die Augen. Brahms stand neben ihr und schaute sie immer noch an. Sie wusste nicht, was das zu bedeuten hatte, aber sie erkannte, dass das ihre Chance war, zu fliehen, wenn sie nur schnell genug wäre. Doch kaum war sie aufgestanden, begann sich alles um sie herum zu drehen, ihre Beine gaben nach und sie verlor das Gleichgewicht. Das letzte, was sie spürte, waren zwei starke Arme, die sie auffingen, dann sank sie in eine tiefe Bewusstlosigkeit.

Spuren der Vergangenheit ("The Boy" Fanfiction)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt