Kapitel 5

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Am nächsten Tag packte Maggie ihren Rucksack, um mit Sebastian zu dem Anwesen der Heelshires zu fahren. Sie hatte nicht vor, noch eine weitere Nacht in der Stadt zu bleiben, sondern wollte, wenn möglich, bei den Heelshires übernachten. Hoffentlich lassen sie mich dort bleiben und schicken mich nicht gleich wieder weg, dachte sie. Maggie fröstelte, als sie den Pub verließen. Es war ein kalter Wintermorgen, Anfang Dezember.

Sie sah hinauf zum Himmel. Womöglich würde es demnächst schneien. Sebastian war schon vorgelaufen und hielt ihr die Autotür auf. Es war ein kleiner blauer Wagen, der schon bessere Tage gesehen hatte. „Danke", sagte Maggie. Sebastian lächelte nur. Dann stieg auch er ein und sie fuhren los. Zuerst ging es eine Weile durch die Stadt, bevor sie auf einen kleinen Waldweg einbogen.

Sebastian sah Maggie an. „Also, Maggie, woher kommst du?", fragte er. „Aus einem Ort in der Nähe von Bristol." Er nickte. „Ist es dort anders als hier? Ich meine, ist dort mehr los?" „Oh, ja", antwortete Maggie. „Ich glaube, überall in England ist mehr los als hier." Sebastian lachte. „Ja, wahrscheinlich", sagte er. „Trotzdem ist es sehr schön hier", fügte Maggie hinzu. „Außerdem tut es mal ganz gut, von alldem wegzukommen", murmelte sie, mehr zu sich selbst. Als sie Sebastians fragenden Blick sah, sagte sie: „Ich habe zu Hause in letzter Zeit nicht viel Gutes erlebt...meine Mutter ist gestorben und...." „Das tut mir leid. Willst du darüber reden?" Maggie zögerte. Eigentlich geht es ihn nichts an aber... Irgendwie wusste sie, dass sie Sebastian vertrauen konnte. „Eigentlich schreibe ich gar kein Buch. Ich habe vor kurzem herausgefunden, dass ich eine Schwester hatte, die hier ums Leben gekommen ist. Ich heiße Maggie Cribbs.

Meine Schwester war -" „Emily?! Emily Cribbs?" Sebastian starrte sie ungläubig an. „Aber das ist doch schon ewig her.....ich meine, niemals hat jemand erwähnt, dass Emily eine Schwester hatte, wie...." „Ich bin geboren, nachdem sie gestorben ist. Und meine Mutter hat es die ganze Zeit vor mir geheim gehalten, sie wollte nach Emilys Tod wahrscheinlich nochmal von vorn anfangen. Aber jetzt will ich mehr über meine Schwester herausfinden und deswegen bin ich hier. Ich wollte nicht, dass das jeder weiß, deshalb habe ich gestern gelogen." „Wow. Also damit hätte ich jetzt nicht gerechnet. Das ist.....krass." Sebastian fuhr jetzt langsamer, er musste sich erst einmal sammeln. „Ja, aber bitte erzähl niemandem davon. Nicht, bis ich mehr darüber herausgefunden habe", bat Maggie. „ Ja, natürlich. Ich verstehe nur nicht, was genau du dir von diesem Trip zu dem alten Haus erhoffst. Du wirst wahrscheinlich keine Spur von deiner Schwester finden. Diese Geschichte mit Emilys Tod, naja, das ist jetzt schon einige Jahre her." „Ich weiß", sagte Maggie. „Aber Emily hat mit dem Sohn der Heelshires gespielt, oder? Das heißt, sie haben sie gekannt und können mir etwas über sie erzählen." „Aber Maggie...", Sebastian sah sie besorgt an, „sie können dir nichts über sie erzählen..." „Woher willst du das denn wissen? Kennst du sie etwa persönlich?" ,fragte sie. „Nein.... Die Heelshires sind tot. Ich dachte, das wusstest du." Jetzt war es an Maggie ihn ungläubig anzustarren. „Waas?! Nein, ich dachte ...ich dachte, ich könnte mit ihnen über Emily sprechen. Das hätte doch im Internet stehen müssen! Seit wann sind sie tot?" „Ungefähr seit zwei Monaten. Zwei Leichen wurden am Ufer eines Sees ca. 50 km von hier aufgefunden. Anscheinend haben sie sich selbst umgebracht, aber offiziell wurde noch nichts bestätigt." Maggie sank der Mut. „Aber vielleicht sind sie es ja gar nicht", sagte sie, „Vielleicht sind sie nur in Urlaub gefahren und kommen wieder..." Verzweifelt suchte Maggie nach Szenarien, die dem Tod des Ehepaares widersprachen, doch Sebastian sagte. „Maggie, hör auf dir Hoffnungen zu machen, wo keine sind. Die Heelshires sind tot und weder ich noch du können was dagegen machen. Hätte ich gewusst, weswegen du hier rausfahren willst, hätte ich dir das schon früher erzählt. Es tut mir leid." „Schon gut", seufzte Maggie niedergeschlagen. „Du konntest es ja nicht wissen."

„Soll ich lieber umkehren?", fragte er. Maggie schüttelte den Kopf. „Nein", sagte sie entschieden, „Auch wenn ich niemanden mehr fragen kann, will ich doch wenigstens sehen wo Emily....wo es passiert ist. Wer weiß, vielleicht findet sich dort ja doch einen Hinweis." Besorgt sah Sebastian sie an. „Na gut, wenn du meinst", sagte er dann. Eine Weile schwiegen die beiden. Maggie sah aus dem Fenster und betrachtete den Wald. Die Fahrt kam ihr schon wie eine Ewigkeit vor. Das Haus muss sehr abseits liegen. Kein Wunder, dass dort so schlimme Dinge passiert sind, ich würde wahrscheinlich wahnsinnig werden, wenn ich mein ganzes Leben so abgeschnitten von der Außenwelt leben müsste, dachte sie. Sie wandte ihren Blick vom Wald ab und wieder Sebastian zu. „Warum glaubst du, haben sie sich umgebracht?", fragte sie ihn. Er überlegte kurz. „Ich weiß es nicht", sagte er schließlich, „ Ich bin ihnen nie begegnet. Fast niemand, den ich kenne, hat die Heelshires je wirklich getroffen; alle haben sich immer nur irgendwelche Geschichten erzählt, wovon wahrscheinlich nicht einmal die Hälfte wahr ist. Der einzige, von dem ich weiß, dass er sie kannte, ist Malcolm, ein Kumpel von mir. Er hat ihnen immer einmal die Woche Lebensmittel geliefert, weil sie das Haus ja so gut wie nie verlassen haben." „Und hat er dir jemals etwas über sie erzählt? Oder über ihren Sohn? Oder Emily?" „Nicht sehr viel...aber eine echt gruselige Story war dabei. Ich nehme an, die Geschichte von Emilys Tod und dem Feuer ist dir bekannt?", fragte er. Maggie nickte nur.

„Also vor 20 Jahren ist das ja ungefähr passiert. Der Sohn, ich glaube Brahms hieß er, ist in dem Feuer ums Leben gekommen. Aber kurz darauf haben sich die Heelshires eine lebensgroße Porzellanpuppe angeschafft, die genauso ausgesehen haben soll, wie der echte Sohn. Sie haben sie auch so behandelt, mit der Puppe geredet, ihr vorgelesen, sie gefüttert. Ich dachte erst, das wäre auch bloß dummes Geschwätz der Leute, aber Malcolm hat es selbst gesehen. Er sollte der Puppe sogar immer die Hand geben und guten Tag sagen. Total krank. Aber naja, wahrscheinlich konnten die beiden nur so mit dem Tod ihres Sohnes umgehen. Muss ja auch total schlimm gewesen sein, erst stellt sich heraus, dass er ein Mädchen ermordet hat und dann stirbt er selber."

Sie kamen an ein großes schwarzes Gittertor, doch die eisernen Türflügel standen offen, sodass sie einfach hindurchfahren konnten.

„Findest du das nicht merkwürdig?", fragte Maggie, „Dass das Feuer ausgebrochen ist, direkt nachdem man Emily gefunden hat?" „Ja, schon", antwortete Sebastian. „Der Sohn soll sehr seltsam gewesen sein. Vielleicht hat er selber das Feuer gelegt. Aber wer weiß das schon? Die Brandursache konnte nie geklärt werden." „Mhh", sagte Maggie gedankenversunken. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass niemand wirklich versucht hatte, den Fall vollständig aufzudecken. Man hatte einfach die Schuld dem toten Jungen zugeschrieben und es dabei belassen. Aber warum hätte er das tun sollen? War er geisteskrank? Mom hätte Emily niemals zu ihm gelassen, wenn sie gemerkt hätte, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Wenn sie es gemerkt hätte. Womöglich hatte aber weder sie noch sonst jemand etwas gemerkt. Durch die Bäume konnten sie jetzt endlich das Haus sehen. Schon von dieser Entfernung war es riesig, wie ein dunkles Schloss ragte es über den Wald.

Maggie hoffte inständig, dass sie dort mehr Antworten statt Fragen finden würde.

Spuren der Vergangenheit ("The Boy" Fanfiction)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt