Kapitel 13

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Nachdem das Motorgeräusch des Autos schließlich nicht mehr zu hören war, lockerte Brahms seinen Griff und Maggie spürte, wie er hinter sie trat und dann vor sich herschob, aus dem Gemäuer hinaus, durch einen der altmodischen Schränke, die in großer Zahl im Haus herumstanden, zurück in das Zimmer, in dem sich am Abend zuvor die Realität für Maggie in einen Alptraum verwandelt hatte. Reglos blieb sie dort stehen. Obwohl der Raum im Vergleich zum Innern des Gemäuers regelrecht grell erschien, sodass das Licht sie in den Augen schmerzte, starrte sie, ohne zu blinzeln, mit leerem Blick vor sich hin; zeigte keine Reaktion, während Brahms um sie herumging und sich direkt vor sie stellte. Erst als er Maggies Unterkiefer packte und ihren Kopf ruckartig so überstreckte, dass sie ihn wieder ansehen musste, zuckte sie kurz zusammen, doch sie wagte es nicht, sich zu bewegen. Oder wegzuschauen. „Maggie." diesmal flüsterte er beinahe ihren Namen. Sie schauderte. Er sah sie an, als wäre sie etwas sehr wertvolles, wie ein Schatz, nach dem er so lange gesucht und ihn endlich gefunden hatte – oder wie ein Raubtier ein stück Fleisch. Mutig versuchte sie, seinem Blick standzuhalten, sein Gesicht näherte sich und mit Entsetzen nahm sie seine kalten Porzellanlippen auf ihren eigenen wahr. „Nein!", schrie sie plötzlich und schubste sie ihn mit aller Kraft von sich. Brahms, der darauf nicht vorbereitet war, taumelte ein paar Schritte zurück. Überrascht schaute er sie an, doch seine Verwunderung wandelte sich schnell in Wut und sofort war er wieder bei ihr. Er griff sie bei den Schultern und drückte sie gegen die Wand. Die Furcht vor dem, was nun folgen könnte, trieb Maggie erneut die Tränen in die Augen. „Bitte", wimmerte sie, „bitte lass mich gehen." Langsam beugte sich Brahms herunter, sodass sein Gesicht mit dem von Maggie auf derselben Höhe war und sagte mit der Kinderstimme, die ihr solche Angst bereitete: „Du gehörst jetzt mir, Maggie. Du wirst für immer hierbleiben und für mich sorgen. Du wolltest doch, dass wir Freunde werden." Schluchzend schüttelte Maggie den Kopf. „Nein, ich will nicht hierbleiben. Sebastian wird mich finden und hier rausholen." Bei diesen Worten bohrten sich Brahms' Finger in ihre Haut. „Niemand wird dich holen, schon gar nicht er!", knurrte er wütend, was Maggie erneut zusammenzucken ließ. Es war das erste Mal, dass er mit seiner normalen Stimme sprach. Sie war....warm. Aber tief und in diesem Tonfall noch viel furchteinflößender, als die unheimliche Kinderstimme. „Du wirst bei mir bleiben", sagte er, etwas sanfter jetzt. „Und wenn du versuchst, zu fliehen...." Er beendete den Satz nicht, doch Maggie verstand die Drohung. Behutsam nahm er ihre rechte Hand und führte sie an seinen Puppenmund. Dann zog er sie mit sich. „Komm. Du musst noch etwas erledigen."

Hecktisch wühlte Sebastian durch die Kartons in seinem Büro. Nach dem Brand hatten sie vieles einpacken müssen, um renovieren zu können. Schließlich zog er einen dicken Ordner heraus, der die Unterlagen über die Gäste und Zimmerbuchungen enthielt. Das Blatt, das Maggie ausgefüllt hatte, war ganz vorne eingeheftet, denn nach ihrem Besuch hatte er keine Gäste mehr empfangen können. Maggie Cribbs. Wieso war ihm das damals nicht aufgefallen? In der Gegend gab es niemanden mehr, der Cribbs hieß, seit sich die Geschichte mit Emily ereignet hatte. Er hätte stutzig werden sollen, doch er hatte wohl einfach nicht auf ihren Nachnamen geachtet. Sein Blick wanderte weiter über das Dokument. Bingo. Er hatte ihre Adresse und tTlefonnummer. Falls sie gestern vom Anwesen der Heelshires abgereist war, müsste sie schon längst zu Hause sein. Die Stimme in seinem Innern, die ihm sagte, dass er sie auch dort nicht erreichen würde, ignorierte er. Sofort wählt er die Nummer und wartete. Und wartete. Niemand hob ab. „Verdammt!", fluchte er und knallte den Hörer auf den Tisch, als das Telefon plötzlich klingelte. Er sah auf den Display. Es war eine unbekannte Nummer. „Hallo?", meldete er sich. „Hallo, Sebastian." Er glaubte, sich verhört zu haben. „Maggie?! Bist du das?" Leise antwortete sie ihm: „Ja ich bins." „Gott sei dank. Ist alles allses in Ordnung bei dir?", fragte er. „Ja mir geht's gut." „Ich hab mir solche Sorgen gemacht weißt du?" Aufgeregt lief er im Zimmer auf und ab. „Ich war gestern nochmal im Haus und als ich dich nicht finden konnte, dachte ich schon.... Es tut mir so leid, Maggie, ich hab mich wie ein kompletter Idiot verhalten." „Ist schon gut", erwiderte Maggie, „du hast mir die Augen geöffnet und endlich.... „ Sie zögerte kurz „...endlich habe ich eingesehen, dass ich das Haus verlassen muss." „Wo bist du jetzt?", wollte Sebastian wissen. „Dieser Mann, der in meinem Pub war, bist du mit ihm gegangen?" „Nein wir...haben nur geredet. Ich bin jetzt bei Bekannten von mir und..." Ihre Stimme zitterte. Besorgt fragte Sebastian: „Maggie, geht es dir wirklich gut? Ist etwas passiert?" Er spürte, wie jemand hinter ihn trat. „Was ist denn mit dir los?" Die junge Frau hinter ihm sah ihn fragend an. Sie war nicht viel älter als Sebastian „Sshh nicht jetzt Leila!", protestierte er und machte eine Geste, die ihr bedeuten sollte, zu veschwinden. Sie verdrehte die Augen und verließ den Raum. Maggie, die natürlich nicht bei Bekannten war, sondern in einem der altmodischen Sessel des Salons der Heelshires saß, hielt verkrampft den Hörer in der einen Hand und hatte sich die andere auf den Mund gepresst, um nicht laut los zu heulen. Sie atmete einmal tief durch, dann sagte sie, ohne auf seine Frage oder die Fauenstimme im Hintergrunnd einzugehen: „Ich wollte mich noch entschuldigen, dass ich einfach so abgereist bin, ohne die etwas zu sagen. Und mich bei dir für alles bedanken, aber bitte, ruf nicht mehr an." „Aber...." „Nein, Sebastian, das mit uns hätte sowieso nicht funktioniert.....offensichtlich." „Aber Maggie....." „Ich sagte nein! Falls du mir noch einen letzten Gefallen tun willst, ruf bitte bei Marie-Louise Coleman an und sag ihr Bescheid, wo ich bin. Ich habe ihre Nummer nicht und sie macht sich sicher auch Sorgen. Ich wünsche dir noch alles Gute." Mit diesen Worten legte sie auf.

Fassungslos starrte Sebastian das Telefon in seiner Hand an. Er wusste nicht, was er tun sollte. Er war traurig und verwirrt und verstand einfach nicht, was gerade passiert war. Leila kam herein und stellte ihm einen dampfenden Kaffe auf den Schreibtisch. „Was war das denn gerade?", wollte sie wissen. „Ich habe dich noch nie so angespannt telefonieren sehen." Als er nicht antwortete, fuhr sie, etwas belustigt, fort: „Hast du einen Korb gekriegt?"„Kannst du mich bitte allein lassen?", war das einzige, was er erwiderte. Sie zuckte mit den Schultern. „Wie du willst. Falls du Trost brauchst, ich habe Kekse gebacken." Sie legte ihm kurz eine Hand auf die Schulter und ging dann aus dem Zimmer in die Richtung, aus der der herrliche Duft des frischen Gebäcks kam. Sebastian sah ihr nach. Seine Schwester war einer der wichtigsten Menschen in seinem Leben, und er schätzte ihre Hilfe sehr, doch im Moment wollte er sie nicht um sich haben. Er brauchte Zeit zum Nachdenken. Warum wollte Maggie nun überhaupt nichts mehr mit ihm zu tun haben und was meinte sie mit dem Gefallen? Er kannte doch überhaupt keine Marie-Louise Coleman. Irgendetwas stimmte nicht mit Maggie und er musste herausfinden, was es war.

Maggies tränenverschleierter Blick wanderte zu Brahms, der neben dem Sessel stand, um sicherzugehen, dass das Gespräch nach seiner Zufriedenheit verlaufen war. Sie betete, dass er keinen Verdacht geschöpft hatte, denn sonst war ihre einzige Chance auf Rettung verloren. Doch er schien zufrieden zu sein. Er ließ das Messer, mit dem er während Maggies Telefonat unablässig gespielt hatte, in seine Hosentasche gleiten und beugte sich zu ihr herunter, eine Hand auf die Sessellehne gestützt, hielt aber in seiner Bewegung inne, als er sah, wie Maggie ängstlich vor ihm zurückwich. Statt sie wieder zu küssen, was er, wie sie vermutete, vorgehabt hatte, nahm er ihr den Hörer aus der Hand, legte zwei Gegenständen in ihren Schoß und verließ ohne ein Wort den Salon. Verwirrt betrachtete Maggie die Sachen. Das eine war der zusammengefaltete Zettel mit den Regeln. Es war offensichtlch, was Brahms ihr damit sagen wollte. Das andere war Emilys Teddybär, den Maggie damals auf dem Dachboden gefunden hatte. Sie konnte sich nicht erklären, warum er ihn ihr gegeben hatte. Doch sie wusste ganz genau, dass er noch etwas anderes von ihr wollte, als nur die Regeln zu befolgen. Das hatten seine Berührungen und seine drohenden Worte deutlich genug gemacht. Und sie wusste, dass er es früher oder später einforden würde. Schluchzend krallte sie sich an den Teddy und vergrub das Gesicht in dem weichen Stoff des Plüschtiers. All ihre Hoffnung ruhte nun einzig und allein auf Sebastian.


Spuren der Vergangenheit ("The Boy" Fanfiction)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt