Kapitel 14

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Maggie musste eingenickt sein, denn als sie sich aus dem Sessel erhob,dämmerte es bereits. Etwas überrascht schaute sie sich um. Es schien alles so wie damals, als sie das Haus zum ersten Mal betreten hatte, unwissend um dessen Bewohner, der jeden ihrer Schritte beobachtete. Brahms war nirgends zu sehen, doch sie zweifelte nicht daran, dass er in der Nähe war. Vielleicht beobachtete er sie sogar genau in diesem Moment. Maggie schauderte bei diesem Gedanken. Sie entfaltete das Blatt Papier, um sich die Regeln noch einmal durchzulesen. Je länger sie die geschriebenen Worte betrachtete,desto mehr schien es ihr, als würden sie beginnen, zu glühen und sich mit jeder Sekunde mehr in ihre Netzhaut einbrennen, bis sie den Zettel zu Boden fallen ließ. Eigentlich waren die Regeln ganz einfach – vorausgesetzt, es wäre wirklich nur ein kleiner Junge,um den sie sich kümmern musste. Oder eine Puppe. Es war Abend, was bedeutete, sie musste jetzt das Essen machen.Und dann.....Die letzte Regel bereitete ihr großes Unbehagen. Sie bezweifelte, dass es immer noch die Puppe war, die sie bemuttern sollte. Sollte sie es doch wagen und seiner Warnung zum Trotz versuchen, zu fliehen? Aber was, wenn sie scheiterte? Was würde er dann mit ihr machen?Gedankenversunken strich sich Maggie über die Unterlippe. Er hat mich geküsst......sicher, es war nicht sein echter Mund aber macht es die ganze Sache nicht umso absurder? Und wie weit wird er noch gehen? Daran wollte sie lieber nicht denken. Sie könnte einen Flucht versuch wagen, nein, sie musste.Denn wenn sie falsch lag und Sebastian sie nicht retten konnte, wer könnte es dann noch tun? Nur sie allein. Ich sollte vorsichtig sein und auf die richtige Gelegenheit warten. Auf einen Moment, wenn Brahms unaufmerksam ist. Schließlich muss auch er einmal schlafen. Sie  biss sich auf die Lippe.Bis dahin muss ich wohl oder übel sein Spielchen mitspielen.


Brahms war immer noch nicht aufgetaucht, um ihr irgendwelche Anweisungen zu geben, also machte sie einfach ein paar Sandwiches, denn sie hatte weder großen Hunger, noch die Motivation,um richtig zu kochen. Während sie das Essen zubereitete, fragte sie sich, ob sie Brahms rufen sollte, schließlich hatte sie auch immer mit der Puppe zusammen gegessen. Andererseits konnte sie gerne auf seine Gesellschaft verzichten. Dennoch wollte sie es nicht riskieren,ihn zu verärgern, weshalb sie, nachdem sie die fertigen Brote auf den Esstisch gestellt hatte, in den Flur trat und nach Brahms rief,obwohl sie ja überhaupt nicht wusste, wo er eigentlich war. Es kam keine Antwort.


Nach kurzem Warten setzte sie sich einfach und aß ihr Sandwich allein, wobei sie in schweigendes Grübeln versank. Was er wohl macht, allein im Innern des Gemäuers? Was hat er die ganzen Jahre allein gemacht? Es muss doch furchtbar langweilig sein, tagein tagaus im Haus zu sitzen. Und einsam. Ob seine Eltern es gewusst haben? Vielleicht hat er ja mit ihnen geredet. Oder vielleicht hat er sie auch gefangen gehalten, so wie mich jetzt und die Nanny war das Lösegeld, mit dem sie sich ihre Freiheit erkauft haben. Diese Nanny lebte jetzt mit Malcolm, der den Heelshires immer das Essen geliefert hatte, in den USA. Sie war hier gewesen, in diesem Haus und hatte es auch wieder verlassen, was bedeutete, dass es nicht unmöglich war, zu entkommen. Ein tröstender Gedanke oder eine trügerische Illusion? Insgeheim wusste Maggie, dass ihre Aussicht auf eine Flucht so gut wie hoffnungslos war. Wie sollte sie es auch anstellen? Er war viel größer und stärker als sie. Außerdem wusste sie nie, wann er sie beobachtete und wann nicht. Und dann war da noch seine Skrupellosigkeit, die ihn sogar zum grausamen Mord fähig machte. Erneut sah sie den leblosen Körper des Mannes vor sich liegen, den schrecklichen Ausdruck in seinem toten Gesicht. Ihr wurde übel und sie legte das angebissene Sandwich beiseite. Der Appetit war ihr definitiv vergangen. Von Brahms gab es immer noch keine Spur, also ging sie wieder zurück in den Salon, um sich ein neues Buch aus den riesigen Regalen auszusuchen. Sie lief auf und ab,suchte zwischen all den Buchtiteln nach einem, der ihr zusagte, bis ihr Blick schließlich an einem bestimmten Werk hängenblieb. Das Regal, vor dem sie stand, war ziemlich schmal, aber bis obenhin vollgestopft mit Kinderbüchern. „Die unendliche Geschichte" war  das Buch ihrer Wahl. Es war eines ihrer liebsten Bücher als Kind gewesen und der Gedanke, beim Lesen den vertrauten Charakteren wieder zu begegnen, hatte etwas tröstliches. Als Kind hatte sie sich gerne ausgemalt, genau wie der Junge in der Geschichte, selbst ins Bucheintauchen und den Alltag um sich herum vergessen zu können. „Was würde ich jetzt für einen Glücksdrachen geben", seufzte sie und streckte den Arm nach oben, um das Buch herunter zu holen. Mist.Ich komm nicht dran. Manchmal war es wirklich ein Fluch, so klein zu sein. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und machte sich ganz lang, doch vergebens. Plötzlich griff von hinten ein Arm über sie hinweg und holte ohne Mühe das Buch vom Regal. Erschrocken fuhr Maggie herum und stieß dabei gegen Brahms, der direkt vor ihr stand,„die unendliche Geschichte" in den Händen. Sie hatte ihn gar nicht kommen hören. Sofort wollte sie zurückweichen, stieß aber mit dem Rücken gegen das Regal. „I-ich dachte....ich könnte noch ein wenig lesen, b-bis es Zeit fürs Bett ist.", versuchte sie,sich zu erklären. Er trat noch einen Schritt näher. Krampfhaft klammerte sich Maggie an das Regalbrett hinter ihrem Rücken und starrte zu Boden, versuchte so zu tun, als ob Brahms gar nicht da wäre. Er musterte sie eine Weile, dann hielt er ihr das Buch hin.Überrascht schaute sie auf. Er nickte ihr zu, forderte sie auf, es anzunehmen. „D-danke", stotterte Maggie, als sie es entgegennahm, wobei ihre Finger kurz seine Hand streiften. Sie spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. Schnell wand sie sich zwischen ihm und dem Regal heraus und trat mit gesenktem Kopf ein paar Schritte auf die Tür zu, ehe sie sich zu ihm umdrehte. „Ich habe Sandwiches gemacht, sie stehen in der Küche. Ich, ähh, habe nach dir gerufen aber...." Ich muss hier weg! „I-ich gehe jetzt nach oben,wenn es dir nichts ausmacht." Brahms stand immer noch vor dem Regal, die Hand, die soeben das Buch gehalten hatte, zu Faust geballt, seine ganze Haltung schien verkrampft, als würde er mit sich selbst kämpfen. O Gott, jetzt habe ich ihn wütend gemacht,dachte sie. Ängstlich sah sie ihn an und wartete wie gebannt auf seine Reaktion. Schließlich entspannte er sich und sah sie über die Schulter hinweg an. Sie meinte, so etwas wie Belustigung in seinen Augen zu erkennen. „Meinetwegen. Solange du nicht die Regeln vergisst." Sie schüttelte den Kopf. „Werd ich nicht." Damit machte sie auf dem Absatz kehrt und hastete die Treppe nach oben. In ihrem Zimmer angekommen, schloss sie die Tür und lehnte sich mit einem erleichterten Aufatmen dagegen. Was war das denn gerade? Sie legte sich eine Hand auf die Wange und nahm immer noch deutlich die Hitze wahr. Maggie ließ das Buch fallen, ging mit schnellen Schritten ging auf ihr Bett zu, warf sich hinein und presste ihr Gesicht tief ins Kissen, bis sie beinahe keine Luft mehr bekam. Sie wollte nicht mehr hier sein. Es war einfach unerträglich, nicht zu wissen, was als nächstes mit ihr geschehen würde. Was hatte Brahms vor?Natürlich war sie froh, dass er sie hatte gehen lassen aber warum hatte er das getan? Und dann war da noch die letzte Regel.... Ich kann das nicht tun. Ich WILL es nicht. Doch sie wusste, dass sie keine Wahl hatte, denn sie hatte zu sehr Angst davor, was passieren würde, wenn sie keinen Gehorsam leistete. Sie wischte sich einmal mit den Händen durchs Gesicht, dann holte sie das Buch und machte es sich damit wieder in ihrem Bett gemütlich. Doch während dem Lesen schweiften ihre Gedanken immer wieder ab und sie las oft eine Zeile mehrmals, ohne wirklich den Sinn des Geschriebenen zu erfassen. Nach einer halben Stunde gab Maggie es auf und begab sich ins Bad, um zu duschen. Sie zog sich in der Dusche bei geschlossenem Vorhang aus und hinterher auch wieder an, denn sie wurde das beklemmende Gefühl, zu jeder Sekunde beobachtet zu werden, nicht los. Ihr war klar, dass,wenn Brahms wirklich die Möglichkeit hatte, von einem Versteck aus das Bad zu beobachten, er schon längst wissen musste, wie sie nackt aussah, schließlich hatte sie sich schon in den letzten Tagen hier umgezogen oder nackt vor dem Spiegel gestanden, wie man das eben tat,wenn man alleine war – oder das zumindest glaubte. Bei diesem Gedanken errötete sie wieder. Jetzt fühlte sie sich selbst im dicksten Pullover vollkommen nackt und ausgeliefert. Als Maggie fertig war, legte sie sich - samt Jeans, da sie ja sonst keine Schlafhose dabei hatte - wieder ins Bett. Sie konnte jetzt weder lesen noch schlafen; sie lag einfach da und starrte an die Decke.Bald war es neun Uhr – um diese Zeit hatte sie die Puppe meistens in das Bett im Kinderzimmer gelegt. Wie sollte sie es mit dem echten  Brahms anstellen? Sollte sie ihn suchen? Sie betete im Stillen,  dass er nicht auch von ihr verlangte, ihm dabei zu helfen, sich bettfertig zu machen, denn das wäre wirklich zu absurd. Als ob deine ganze Situation nicht schon absurd ist, Maggie. Sie lachte leise auf,so dumm kam ihr auf einmal alles vor. Doch sie verstummte sofort und setzte sich auf, als sie hörte, wie sich Schritte näherten. Sie kniete jetzt auf der Matratze, die Finger in die Bettdecke gekrallt,als Brahms die Tür öffnete und ins Zimmer kam. Sie schluckte.Vielleicht reicht ja ein flüchtiger Kuss auf die Wange, so wie bei der Puppe auch. „Zeit fürs Bett", sagte Brahms mit seiner Jungenstimme. Maggie atmete einmal tief aus schaute mutig zu ihm auf. Zumindest hoffte sie, dass sie mutig wirkte, denn sie fühlte sich ganz und gar nicht so. „Ich habe es nicht vergessen",erwiderte sie. Sie wollte aufstehen, um Brahms in sein Zimmer zu begleiten. Je schneller sie es hinter sich hatte, desto besser. Doch der schüttelte den Kopf und versetzte ihr einen sanften Stoß gegen das Brustbein, der sie wieder rücklings auf das Bett fallen und einen überraschten Laut ausstoßen ließ. Er beugte sich über sie und packte sie an der Kehle. Er tat ihr nicht weh, dennoch schnappte Maggie erschrocken nach Luft und sah ihn ängstlich an. „Ab jetzt machen wir das mit der letzten Regel ein bisschen anders.", sagte er, diesmal mit seiner richtigen Stimme. „Du wirst jetzt jeden Abend genau hier auf mich warten, verstanden?" Sie nickte nur und er beugte sich hinab und wieder spürte sie die kalten Porzellanlippen auf ihren. Und wieder schloss Maggie die Augen, wobei ihr alle möglichen Dinge, die Brahms nun mit ihr anstellen könnte,durch den Kopf gingen. Doch so schnell wie es angefangen hatte, wa res auch schon vorbei. Der Druck auf ihren Körper ließ nach und sie öffnete die Augen. Sie spürte eine Welle der Erleichterung, die jedoch sofort unterbrochen wurde, als Brahms die Bettdecke zurückschlug und sich neben sie auf die Matratze sinken ließ. „Was tust du da?", fragte sie erschrocken und rückte von ihm ab. Er lachte. „Ich muss doch aufpassen, dass du mir nicht abhaust,während ich schlafe. Und ich warne dich, ich habe einen sehr leichten Schlaf." Damit zog er Maggie an sich, sodass sie als kleines Löffelchen mit ihrem Rücken an seinen Bauch gepresst war und sein Kinn über ihrem Kopf ruhte, während er einen Arm fest um ihre Taille geschlungen hatte, was es ihr unmöglich machte,aufzustehen. „Du gehörst mir", flüsterte er. „Gute Nacht,Maggie." Sie lag nur still da, reglos und fassungslos. Wie hatte sie glauben können, dass er jemals unaufmerksam wäre? Nicht einmal wenn er schlief, hatte sie eine Chance, zu entkommen. Sie wünschte,sie hätte das Tagebuch nie bekommen, dann hätte sie dieses Haus nie betreten und wäre diesem Mann, mit dem sie jetzt eng umschlungen in einem Bett lag, nie begegnet. Sie spürte seine Hitze an ihrem Rücken und seinen kräftigen Arm, der sie festhielt. Dem Klang seines gleichmäßigen Atems nach zu urteilen, war Brahms bereits eingeschlafen. Bestürzt bemerkte sie, wie beruhigend dieses Geräusch auf sie wirkte und erneut spürte sie die Röte in ihrem Gesicht emporsteigen. Sie hatte Angst vor ihm, ja. Aber war es möglich, sich gleichzeitig geborgen zu fühlen? Nein, das geht doch nicht! Sowas darfst du nicht denken! Du bist nur zu müde, das ist alles, sagte sie sich. Doch bevor sie sich noch weitere Gedanken darüber nicht machen konnte, waren ihr schon die Augen zugefallen.

Spuren der Vergangenheit ("The Boy" Fanfiction)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt