Kapitel 7

900 44 4
                                    

Kapitel 7

Während dem Abendmahl war auch Élothin wieder anwesend. Sie hatte den ganzen Tag in ihrem Gemach verbracht, mit Eowyn an ihrer Seite. Als es Abend wurde hatte Eowyn sie überredet, mit ihr zu essen. So sass Élothin am Rande der langen Tafel neben Eowyn und kaute ohne grossen Appetit auf einem Stück Fleisch. Bei jedem Bissen musste sie sich zwingen zu kauen, zu schlucken, ein neues Stück aufzuladen und wieder in den Mund zu schieben. Eowyn beobachtete sie besorgt, sagte aber nichts. Hin und wieder sah sie zu ihrem grossen Bruder hinüber, der stumm sein Essen verspeiste. Etwas schien ihn zu belasten. Eowyn konnte es in seinen Augen sehen. Seine ganze Mimik verriet nichts, er wirkte ernst und stolz, wie immer, nur seine Augen sagten etwas anderes. Eowyn kannte ihren Bruder so gut wie niemand sonst. Sie war die Einzige, die seine wahren Gefühle erahnen konnte, während jeder andere davon ausging, dass es Éomer so ging, wie er sich nach aussen hin verhielt.

Die Stimmung war bedrückt, denn alle Anwesenden hatten Élothins Gefühlsausbruch in irgendeiner Weise mitbekommen. Nach dem Essen zog Élothin sich in ihr Gemach zurück und Eowyn machte sich auf die Suche nach Éomer, um mit ihm zu reden, denn dieser war ebenfalls gleich nach dem Essen aufgestanden und verschwunden.

Als Eowyn in Éomers Gemach eintrat, erblickte sie ihn auf der Bettkante sitzend, den Kopf in die Hände gestützt.

„Éomer?", sagte sie leise und kniete sich vor ihn hin. Sanft berührte sie seine Schulter.

„Was ist los, Éomer?" Niemand ausser Eowyn hatte Éomer jemals so gesehen, und selbst für Eowyn war es nicht üblich, ihn in einer solchen Verfassung anzutreffen. Seine sonst so stolze Haltung war von ihm abgefallen und sein Blick war betrübt.

„Ich will nicht darüber reden.", murmelte Éomer abweisend, doch Eowyn liess nicht so schnell locker. Es brauchte eben ein bisschen Geduld, bis er aus sich herauskam.

„Ist es wegen Élothin?", hakte sie nach, „Seit sie hier ist, bist du wie verändert. Du redest noch weniger als sonst, und wenn, dann nur über geschäftliche Dinge, und du ziehst dich viel öfters in dein Gemach zurück. Meinst du, das wäre mir nicht aufgefallen?"

Éomer richtete sich auf und sah Eowyn gereizt an.

„Ich hab gesagt, ich will nicht darüber reden!", rief er wütend. Erschreckt sprang Eowyn auf und wich ein paar Schritte von ihm weg. Sie hatte keine Angst vor ihrem Bruder, aber ein kleiner Sicherheitsabstand konnte nicht schaden.

„Aber ich könnte dir helfen...", begann Eowyn, doch Éomer unterbrach sie.

„Ich löse meine Probleme selber, ich bin ein erwachsener Mann. Und du hältst dich da raus!", brüllte er zornig.

Daraufhin stapfte Eowyn zur Tür und riss diese auf.

„Gut! Dann versink' in deinem Leid!", giftete sie eingeschnappt, die Tür knallte zu und Éomer stand alleine inmitten seines Gemachs. Wütend blickte er auf die Stelle, wo gerade eben noch Eowyn gestanden hatte. Immer wollte sie mit ihm über seine Probleme reden. Immer. Dabei konnte er sie wirklich selber lösen, er brauchte keine Hilfe von ihr. Er hasste es über seine Gefühle zu reden, selbst wenn es um seine Eltern ging, was auch Eowyn betraf. Er trat ans Fenster und liess seinen Blick über Edoras Dächer schweifen. Seine Wut verrauchte mit einem Mal und in Gedanken war er wieder bei Élothin und seinen Eltern.

Élothin erinnerte ihn so sehr an dieses Leid, das er ertragen musste. Sie hatte fast ihre ganze Familie verloren, und nun war auch ihr Bruder kurz davor zu sterben. Er sah, wie sie unter den Schmerzen litt und er wusste, dass Alpträume sie die ganze Nacht hindurch gequält hatten, wenn sie am Morgen in der goldenen Halle erschien. Es schien ihr besser zu gehen, wenn Eowyn bei ihr war, manchmal sah er sie sogar lächeln. Aber meistens sass sie still da und beobachtete die Geschehnisse um sich herum. Sie sah so verletzlich aus und wenn Eowyn nicht bei ihr war, wirkte sie ganz verloren.

Manchmal hatte er das Bedürfnis, zu ihr zu gehen und sie in seine Arme zu schliessen, ihr Schutz und Trost zu spenden. Doch er selber konnte es nicht verkraften, sie anzuschauen, denn sobald er in ihre unschuldigen Augen blickte, wurde er schmerzhaft daran erinnert, dass auch seine Eltern tot waren und welches Leid dies mit sich gebracht hatte.

Aus dem Augenwinkel bemerkte er eine Bewegung auf der Wiese. Als er genauer hinsah, erkannte er Eowyn und Élothin, die mit den Welpen spielten. Ein kleiner Hund kletterte gerade auf Élothins Schoss und schleckte ihr übers Gesicht. Ihr entwischte ein kurzes, helles Lachen, das jedoch gleich wieder verschwand.

Éomer wandte sich ab, er ertrug es nicht, sie länger anzusehen, es schmerzte ihn zu sehr.

***

Zwei Tage später verstarb Enaithar. Élothin war nicht von seiner Seite gewichen, sie hatte ihn nicht alleine lassen können.

Einmal, als Élothin kurz davor gewesen war einzunicken, wachte Enaithar aus seinem Fieberschlaf auf und suchte Élothins Blick. Diese war augenblicklich wach und fasst nach seiner Hand.

„Élothin...", murmelte er. Es fiel ihm schwer zu sprechen.

„Ich bin hier, Enaithar. Ich bin hier.", wisperte Élothin mit tränenerstickter Stimme.

„Du...du musst wieder...glücklich...werden.", presste er hervor.

„Aber wie denn?", schluchzte Élothin leise.

Doch Enaithar gab keine Antwort mehr, denn das Fieber übermannte ihn abermals und er glitt in einen Schlaf, aus dem er nie wieder aufwachen sollte. Élothin sackte über ihm zusammen und weinte bitter, bis die Tränen versiegten und ihr vor Erschöpfung die Augen zufielen.

***

Enaithars Begräbnis fand ein wenig ausserhalb von Edoras statt und nur wenige waren anwesend. Der König führte die kleine Zeremonie, die aus ihm selbst, Ardwyn, Theodred, Eowyn und Élothin bestand, an. Die Leute aus der Stadt hatten den Jungen kaum gekannt, nur Élothin hatten sie gelegentlich mit Eowyn draussen gesehen.

Als die Trauernden vor dem Grab stehen blieben, ging Élothin nach vorne zu Enaithars Leichnam und drückte ihm einen Abschiedskuss auf die Stirn. Dann trat sie zurück und der König sprach ein paar Worte. Élothin hörte jedoch nicht zu, sondern lauschte nur dem Wind, dem Rauschen des Grases und dem fernen Gesang eines einsamen Vogels. Eine winzige Träne lief ihr über die Wange und sie spürte, wie Eowyn sie bei der Hand nahm. Sie blieb noch eine Weile an Enaithars Grab stehen, während die andern um sie herum mit der Zeit zurück in die goldene Halle gingen. Auch Eowyn machte sich auf den Weg zurück, sie wollte ihrer Freundin einen Moment für sich lassen.

Die Trauer war so überwältigend, dass es Élothin schwer fiel zu atmen. Sie konnte nicht weinen, sie konnte nicht schreien, sie fühlte sich so leer und zugleich war sie unendlich traurig und verzweifelt. Sie starrte einfach nur auf Enaithars Grab, konnte nicht begreifen, dass das was sie sah, die Wirklichkeit war. Sie versuchte zu weinen, doch keine Tränen waren mehr übrig.

Ein Windstoss fegte die Blumen vom Grab, die Élothin für Enaithar gepflückt hatte. Die Blüten tanzten im Wind auf und ab, wurden fortgetragen, über Wiesen und Wälder, landeten sachte auf dem Wasser und wurden hinausgetragen in das weite Meer.

Don't go where I can't followWo Geschichten leben. Entdecke jetzt